BlogDie Zeit meint: Japan hat autofrei. Wirklich?

Die Zeit meint: Japan hat autofrei. Wirklich?

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In der Ausgabe Nr. 5 der Zeitung Die Zeit vom 26. Januar 2023 erschien ein Artikel mit dem Titel „Japan hat autofrei“1 – eingeleitet mit

Kaum Staus und Unfälle – trotz dicht besiedelter Metropolen und einer mächtigen Industrie. Was machen die Japaner in der Verkehrspolitik bloß besser als die Deutschen?

Eine Feststellung, die mich erstmal ganz arg verwunderte. Kaum Staus? Ganz falsch. Kaum Unfälle? Auch falsch. Aber vielleicht bin ich da zu subjektiv. Schaut man sich die Zahl der Autos pro 1’000 Einwohner an, so liegt die in Deutschland bei 628 und in Japan bei 6242. Schauen wir mal auf die Verkehrstoten: Deutschland 4,1 pro 100’000 Einwohner, Japan 4,1. 3. Zahlenmäßig wäre die Feststellung also schon mal widerlegt. Der Artikel beruft sich dabei zwar auf die Zahl von 2,7 Verkehrstoten im Jahr 2020 — doch in jenem Jahr war der Verkehr in ganz Japan stark eingeschränkt, da alle Bürger gebeten wurden, unnötige Fahrten wegen der Pandemie zu unterlassen.

Subjektiv betrachtet stimmt der Artikel, zumindest aber die Zusammenfassung, gar nicht – der Artikel besagt in einer Bildunterschrift „Hier gibt es nichts zu sehen – zumindest kein Verkehrschaos. Selbst im Zentrum von Tokio bewahren die Japaner Ruhe und Disziplin“. Die Wahrheit sieht anders aus — und richtet sich stark nach der Tageszeit, aber das ist überall so. Tokyo hat keine Staus an Werktagen – Tokyo ist ein einziger Stau. Als ich 2020 wegen Corona mit dem Auto zur Arbeit fuhr, dauerte das im Schnitt 90 Minuten – für 21 Kilometer. Das sind im Schnitt 14 Stundenkilometer – wesentlich langsamer als eine Fahrt mit dem Fahrrad. Fahre ich am Wochenende mal ins Grüne – egal, in welche Richtung – sind 4 Stunden für 100 Kilometer verhältnismäßig normal. Und das auf der Autobahn, wohlgemerkt.

Der Artikel enthält noch zahlreiche weitere Fehler. So wird festgestellt, dass in Japan fast niemand einen SUV fährt:

Wer in Japan überhaupt ein Auto hat, fährt fast nie einen SUV, sondern meist einen Kleinwagen.

Das ist zwar auf dem Land richtig – in den Großstädten wimmelt es jedoch nur so vor SUV. Laut dieser Quelle 4 ist in Japan jedes dritte verkaufte Auto ein SUV – im Jahr 2021 wurden japanweit 650’000 SUV verkauft, in Deutschland waren es im gleichen Zeitraum 670’0005. Pro Kopf gerechnet sind es in Deutschland entsprechend 1.5 mal mehr SUVs, aber bei mehr als einer halben Million neu gekaufter SUV pro Jahr kann von „fast nie einen SUV“ wahrhaftig nicht die Rede sein.

Außerdem wird zum Beispiel die Luftqualität von Tokyo gerühmt – sicher, die ist den vergangenen Jahrzehnten deutlich besser geworden, aber Tokyo hat es auch einfach mit einem oft auflandigen Wind vom Meer her. Läge der Großraum Tokyo in einer weitläufigen Ebene mitten im Land oder gar in einem Talkessel, sähe die Sache ganz anders aus.

Einige angesprochene Dinge stimmen natürlich. So ist es richtig, dass die Zahl der autobesitzenden Haushalte in Tokyo zum Beispiel weitaus geringer ist als die in anderen Ländern — in Tokyo sind es nur 22%, in Berlin 34%. Als Grund wird dabei eine bereits aus dem Jahr 1962 stammende Regel zitiert, nachdem man beim Kauf eines PKW einen Parkplatznachweis erbringen muss, und Parkplätze sind rar beziehungsweise teuer, so überhaupt vorhanden. Dass die Regel in den Großstädten gnadenlos angewendet wird, konnte ich neulich bei meinem Honda-Händler erleben. Ein junges Paar mit Kind hatte sich für ein bestimmtes Auto entschieden, und sie bewarben sich deshalb beim Eigentümer der Wohnung um einen Parkplatz. Den hatten sie auch fast sicher, doch dann erhob ein Senior aus dem gleichen Haus ebenfalls Anspruch um den letzten, verbliebenen Parkplatz, da er sich einen Zweitwagen zulegen möchte. Da die Parkplätze bei mehreren Bewerbern oftmals ausgelost werden, hatten die jungen Eltern einfach mal Pech — der Rentner gewann die Zulosung. Und ohne Parkplatznachweis gibt es keine KFZ-Zulassung, basta.

Schon mal erwähnt das Japan ein Land voller Autonarren ist?
Schon mal erwähnt das Japan ein Land voller Autonarren ist?

Der Zeit-Artikel fragt „Was machen die Japaner in der Verkehrspolitik bloß besser als die Deutschen?“. Nun, nicht viel. Als ich im vergangenen Jahr in Deutschland zum ersten Mal mit dem Auto unterwegs war, war ich sehr überrascht, wie glatt alles ging – nur wenige Staus, und man kam fast überall zügig voran. Schneller als in Japan. Und die Leute fuhren disziplinierter — wahrscheinlich wegen der ganzen Drängler, aber die gibt es in Japan eigentlich auch. Doch der Grund dafür, dass verhältnismäßig wenig Hauptstädter ein Auto haben, ist nicht nur das gut funktionierende und zuverlässige Nahverkehrssystem (welches schwer in Deutschland imitierbar ist, da in Japan viel dichter gebaut wird), sondern auch der schlichte Mangel an Parkplätzen, was in der Tat geschickt von den Kommunalverwaltungen reguliert wird).

Wie dieser Artikel jedoch in Die Zeit gelangen konnte, ist mir ein kleines Rätsel. Offensichtlich hat man sich hier ein Zufalls-Stockphoto (von dpa) ausgesucht, ein paar Zahlen zusammengeklaubt und drauf los geschrieben, ohne die Bedingungen vor Ort zu kennen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Ein autofreies Land stelle ich mir jedenfalls ganz, ganz anders vor.

  1. siehe hier, allerdings hinter einer Paywall
  2. beide Zahlen 2020, siehe hier
  3. Zahlen von 2016, siehe hier
  4. siehe hier
  5. siehe hier
tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

5 Kommentare

  1. Hach, da hab ich mich auch gewundert. Was mir aufgestossen ist war der Vergleich Tokio-Berlin, beides sind zwar Hauptstädte, aber …. Und Tokio ist einfach nicht gleich Japan. Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr dort, es kommt mir manchmal wie ein fremdes Land vor. Und worüber ich wirklich lachen musste, war das Parken. Hier in Kyoto haben viele Gassen gar keine Kantsteine, und auf den großen Straßen gibt es doch so ganz praktisch eine extra Parkspur, auf der zwar so ein Fahrrad aufgemalt ist…SUVs sind hier beliebt, und ich weiß nicht warum, die kommen in den Gassen kaum um die Kurve rum und als Radfahrer hat man oft nur die Auswahl fahr ich jetzt auf den nächsten Pfosten oder auf das Auto oder bleib ich stehn. Und das Hupen ist soweit ich weiß illegal, außer bei Gefahr in Verzug und wenn der erste Autofahrer an der Ampel mit seinem Handy spielen muss und bei Grün nicht losfährt, muss man geduldig und leise warten. Insgesamt schade, dass es im Moment wohl keine „guten“ Journalisten in Japan gibt. Mit Gruß aus meinem tugendlichen energieffizienten Kotatsu

  2. Jaja, der allseits beliebte und hoch geachtete deutsche Qualitaetsjournaillismus, wie wir ihn spaetestens seit Relotius kennen und lieben gelernt haben… ;-)
    Gefuehlt fahren die Haelfte aller SUV auf Hokkaido, wo die Strassen ja auch etwas breiter sind als in Kamakura oder Kyoto, und die langen, harten Winter machen sie gerade bei den hiesigen Agrarkosmetikern beliebt.
    In den Ballungsraeumen von Tokyo und Osaka, in denen sich ja ein nicht unbetraechtlicher Teil der japanischen Bevoelkerung tummelt, kommt man hingegen bequem ganz ohne Auto aus, zumal auf die oeffentlichen Verkehrsmittel absolut Verlass ist.
    Dass Japan staufrei ist, halten autofahrende Insulaner allerdings fuer einen schlechten Witz, und man fragt sich unwillkuerlich, wen denn die Journaille dazu interviewt hat.
    Wer in Japan Geld hat, zeigt das mitunter auch dadurch, dass er/sie/es in einem Import-Gefaehrt durch die Strassen flaniert – in den engen Gassen von Staedten wie Kamakura z.B. ist das allerdings weniger der SUV, sondern eher ein Mini-Cooper… ;-)
    Amuesierte Gruesse aus dem Schneeparadies im hohen Norden, wo wir morgen frueh wieder die weisse Pracht schippen duerfen

  3. Danke für den Artikel, sehr interessant. Aber der Rentner mit dem Zweitwagen ist ja mal der Hammer. Und dass der den Parkplatz auch noch gekriegt hat, ist der zweite Hammer.

  4. Vielen Dank für diesen Einblick in den allgegenwärtigen Alltag.

    Also dass das Nahverkehrssystem hier in Deutschland nur schwer mit Japan mitziehen kann, hängt sicherlich auch am übermäßigen Bürokratiewahnsinn ab; vieles ließe sich problemlos erledigen, stattdessen brauchen wir ca. 5-10x so lang, wenn ich verschiedene vergangene japanische Artikel mit ähnlichen deutschen Artikeln aber mit selben Inhalt vergleiche. Auch ich kann tatsächlich nicht verstehen, warum der Senior den Platz bekommen hat – für einen Zweitwagen, den sowieso kaum ein Autofahrer besitzt. Auch wenn der Platz verlost wurde, hätte ich ihn dann an die Familie abgegeben.

    Auch wenn ich bisher noch nicht in Japan war, kann ich die Argumentation der Zeitung „Die Zeit“ wie bei mittlerweilen vielen Zeitungen und News-Agenturen nicht verstehen. Investigativer Journalismus ist bei den großen deutschen Medien kaum mehr vorhanden. Einer veröffentlicht den Artikel, und nahezu jeder andere kopiert ihn 1:1 inkl. Rechtschreibfehler; als Quelle geben die meisten dann ‚dpa‘ oder ‚Reuters‘ an, aber das wars dann auch.

    Die große, mittlerweile mind. 70 Jahre alte Devise lautet oftmals, man nehme eine erfundene Tatsache (auch als Lüge bekannt) und mische diese in einen realen wahren Kontext. Dadurch wird die Story aufgrund des wahren Kerns glaubhaft (besser bekannt als Nachrichtenmanipulation oder sogar Desinformation). Leider zählen dazu u.a. „Die Zeit“, die „SZ“ und sogar „Reuters“.

    (Typische Elemente des heutigen Journalismus sind leider die 3 Folgenden: Agendasetzung, Framing, Priming – und die zielen oftmals nur auf einen ganz bestimmten Kontext, ohne die Hintergründe zu erläutern.)

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