BlogFahrradfahrt zur Arbeit in Tokyo 2.0

Fahrradfahrt zur Arbeit in Tokyo 2.0

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Normalerweise besteht mein Arbeitsweg hier aus einer interessanten Mischung aus knapp 5 Kilometer Fahrradfahrt, 30 Minuten Bahnfahrt (mit einem mal Umsteigen, über insgesamt 190 Treppenstufen), und einem gut 1 Kilometer langen Fußmarsch. Eine gesunde Mischung, die zudem einiges zulässt – man kann im Zug die Nachrichten schauen (Hinweg) oder Blogeinträge schreiben, oder einfach nur Lesen, und man kann beim Laufen schön Podcasts oder Musik hören. Die vielen Treppen und die Fahrradfahrt sorgen für Bewegung – letztere vor allem, denn es geht auf und ab (dazu gibt es dieses Video von der kompletten Fahrt).

Früher habe ich auf der anderen Seite gewohnt – und der Weg war ähnlich, nur dass die Fahrradstrecke lediglich 2 km lang war. Einzig nach dem großen Erdbeben 2011 wurde es problematisch, denn periodische (und planmäßige) Stromausfälle liessen damals ein paar Tage lang meinen Zug ausfallen, so dass ich an ein paar Tagen die 20 Kilometer mit dem Fahrrad fuhr.

Doch mit Corona ist nun alles anders. Zwar kann ich den einen oder anderen Tag durchaus auch mal im Home Office arbeiten, aber an den meisten Tagen muss ich einfach vor Ort sein. Doch was tun, um das Ansteckungsrisiko zu mindern? Im letzten Jahr beschloss ich im April, während des ersten Ausnahmezustands, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Zwei Monate hielt ich das durch, bis ich aufgab. Es war einfach nur sehr stressig. Vor allem aber fehlte mir definitiv die Bewegung. Als die Infektionszahlen Anfang des Jahres wieder anzogen, beschloss ich also, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren – vorausgesetzt, es regnet nicht in Strömen. Und nach ein paar Fahrten hatte ich endlich eine halbwegs angenehme, und zudem auch noch fast gerade Route gefunden. Länge: knapp 42 km pro Tag, also 21 km pro Weg.

Fahrradroute: Man merkt, wie klein Tokyo eigentlich ist
Fahrradroute: Man merkt, wie klein Tokyo eigentlich ist

Der Vergleich ist dabei interessant:

Fahrrad/Bahn/Fußweg

Fahrtzeit (einfach): 60 Minuten (10 Min Fahrrad, 30 Min Bahn, Rest zu Fuß & Umsteigen, Warten etc)
Stresslevel (1-10): 5 (volle Bahnen!)
Monatliche Kosten: rund 100 Euro (Monatskarte)

Auto

Fahrtzeit (einfach): 90 Minuten (Hinfahrt, zurück meist 60 Minuten)
Stresslevel (1-10): 11
Monatliche Kosten: 500 bis 700 Euro (400 Euro Parkplatz (Monatsvertrag), 100 Euro Sprit, 200 Euro Maut falls Autobahn)

Fahrrad

Fahrtzeit (einfach): 55 Minuten (plus minus 3 Minuten, je nach Wind)
Stresslevel (1-10): 3
Monatliche Kosten: rund 30 Euro (Wartungskosten)

Es geht also zügiger voran mit dem Fahrrad. Und wenn man vorher mit dem Auto gependelt ist, macht es erst richtig Spass, an der Kolonne vorbeizurauschen.

Blaue Streifen für Radfahrer in Tokyo
Blaue Streifen für Radfahrer in Tokyo

Die ganze Radfahrerei hat seine Vor- und Nachtteile. Während des Radfahrens kann man nicht viel machen. Man fährt eben einfach vor sich hin und konzentriert sich besser auf die Strasse. Ausserdem ist man nach der Fahrt jeweils kurz geschlaucht, aber daran gewöhnt man sich. Einer der positiven Nebeneffekte ist, dass man – zumindest laut meiner App – bei einer Hin- und Rückfahrt rund 1,400 Kalorien verbraucht. Sprich: Man hat, wenn man so viel mit dem Rad fährt, nicht einfach mehr nur Appetit, sondern Le Kohldampf™, was unweigerlich dazu führt, dass man bei gleichbleibender Essensmenge die Pfunde, die man durch das Pendeln mit dem Auto dazugewonnen hat, auch wieder los wird.

Höhenprofil: Tokyo ist im Osten sehr flach - im Süden und Westen geht es jedoch bergauf und bergab
Höhenprofil: Tokyo ist im Osten sehr flach – im Süden und Westen geht es jedoch bergauf und bergab

Natürlich sind lange Radfahrten durch die Stadt mitunter auch stressig – deshalb meine Top 5 der nervigsten Sachen beim Radfahren:

  1. 信号無視 Shingō-mushi (Ampelignorierer – mushi heißt übrigens auch Wurm oder Insekt). Da es in Japan keine Ampelblitzer gibt, kommt es relativ häufig vor, dass Autofahrer bei tiefrot und durchgetretenen Gaspedal über die Kreuzung brettern.
  2. Durchgeknallte Mütter – die einfach so aus Seitenstrassen auf die Hauptstrasse preschen, ohne nach links oder rechts zu schauen. Meist mit ein oder zwei Kindern auf einem e-Bike.
  3. Ampeln. Es gibt auch hier grüne Wellen, aber an zwei Stellen auf meinem Weg gibt es jeweils 4 Ampeln auf weniger als 300 Metern, die nicht miteinander verschaltet sind. Egal, wie man fährt – man hält jeweils im Schnitt an 3 der 4 Ampeln.
  4. Ignorante Mopedfahrer, die einfach die Fahrradspur blockieren und niemanden mehr durchlassen, wenn sie selbst nicht durchpassen (am besten mit hochgezogenem Auspuff, der dem Radfahrer dahinter alles in Gesicht pustet)
  5. Böswillige Autofahrer, die auf Teufel komm raus überholen, um dann an der jeweils nächsten Ampel die Spur dichtmachen. Kommt nicht so häufig vor, aber es passiert.
Nervt: Mopeds auf der Radspur. Und in Tokyo wimmelt es nur so vor Mopeds.
Nervt: Mopeds auf der Radspur. Und in Tokyo wimmelt es nur so vor Mopeds.

Fairerweise muss ich dabei aber auch die Sache als Autofahrer in Japan betrachten. Da sieht die Top 5 etwas anders aus:

  1. Kein Licht. Der Klassiker. Viele Fahrräder in Japan haben, wenn überhaupt, nur ein Vorderlicht und kein Rücklicht.
  2. 2) siehe 2) in der Liste oben. Diese Leute machen mir jedes Mal Angst, und sie machen mich wütend, wenn sie Kinder auf dem Rad haben. Selbstmordgedanken? Gut und schön. Aber lasst doch wenigstens die Kinder am Leben!
  3. 逆走 gyakusō – in entgegengesetzter Richtung fahren. Das war in Japan bis 2013 durchaus üblich und nicht verboten – erst seit 2013 besteht das Verbot (siehe hier).
  4. 並進 heishin – das Nebeneinanderfahren auf der Strasse
  5. ながら運転 nagara unten – beim Fahren auf dem Handy Filmchen und andere Sachen schauen.

Beim Fahrradfahren in Japan gilt übrigens – wie auch beim Autofahren – das Japanischkenntnisse quasi erforderlich sind, denn einige Verkehrsschilder gibt es tatsächlich nur auf Japanisch. Da ist das Schild rechts noch harmlos – auf manchen Schildern stehen halbe Romane, die beschreiben, wer wie wann und warum abbiegen darf.

Wichtiger Zusatz: "Fahrradfahrer ausgenommen"
Wichtiger Zusatz: „Fahrradfahrer ausgenommen“

Drei Monate fahre ich nun täglich (bis auf einen Tag Home Office) mit dem Fahrrad zur Arbeit. Und ich werde dies wohl auch vorerst weiterhin tun – bis sich die Corona-Lage etwas gebessert hat, oder bis es einfach zu heiss wird.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

6 Kommentare

  1. Super Artikel. Was für ein Fahrrad fährst du den? Man hört übrigens immer wieder, dass nicht Japaner auf Fahrräder ab und an von der Polizei kontrolliert werden (Fahrraddiebe sind ja meistens Ausländer ;-) ) passiert dir das auch?

    • Ich fahre ein Giant Escape RX. Das hier:
      https://www.giant.co.jp/giant21/bike_datail.php?p_id=00000034

      Ich glaube, ich fahre seit 30 Jahren Giant…

      Ich weiss ehrlich gesagt nicht, ob das mit der Polizei eine urbane Legende ist. Ich habe das auch schon sehr oft gehört, aber in 17 Jahren in Japan wurde ich gerade mal 2 Mal angehalten (und das innerhalb der selben Woche, wohlgemerkt). Die Fragerei war allerdings schon ein bisschen merkwürdig. Ich nehme mal an, es hängt davon ab, wo man und wann man unterwegs ist…

      • Wow, nicht schlecht dein Esel. Ich selber lebe ja nicht in Japan aber bin jedes zweite Jahr für jeweils 2 – 3 Wochen dort. In all den Jahren (seit 1996) nicht einmal kontrolliert. Mein Velo ist allerdings auch ein sehr billiges China Modell. Allerdings vermute ich auch, dass die örtliche Polizei mich kennt, da ich meist der einzige weisse Ausländer vor Ort bin (Nähe Marugame, Shikoku). Umgekehrt wurde die Polizei in Osaka und Tokio oft von mir „belästigt“ wenn ich meinen Weg wieder mal verloren habe ;-) bis jetzt nur gute Erfahrungen. Hoffe nächstes Jahr wieder zu gehen..

        • Der Preis für das Giant ist gerechtfertigt… das jetzige Model fahre ich seit 5 Jahren. Ein billiges Modell müsste ich wahrscheinlich alle sechs Monate komplett austauschen. GIANT ist übrigens aus Taiwan, und ich kann es echt nur empfehlen

  2. Sehr unterhaltsamer Blogpost!

    Ich fahre selbst seit August letzten Jahres mit dem Fahrrad zur Arbeit.
    Sind zwar „nur“ 11km, aber das reicht mir auch.

    Ich brauche hin 40 – 45 Minuten und zurück 35 – 40 Minuten. (Morgens geht es bergauf, abends bergab.)
    Mit dem Auto wären es normalerweise so um die 20 Minuten, wenn kein Stau oder Baustelle etc. ist.

    Ich bin dazu gekommen, weil mein Arzt mir gesagt hat, ich müsse dringend abnehmen.
    Und das hat auch schon gut geklappt, 12,5 kg bisher. Und mir geht es auch deutlich besser (Rückenschmerzen!), so dass ich zum Autofahren nicht mehr zurückkehren werde.

    • Meine „Fitness“ besteht zur Zeit aus besagter Radtour und einer halben Stunde oder so Tischtennis mit Okulus 2 (kann ich nur empfehlen). Macht wirklich einen Riesenunterschied, wenn man sich etwas bewegt…

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