BlogCorona-Lage in Japan: Theorie, Praxis und ein leiser Verdacht

Corona-Lage in Japan: Theorie, Praxis und ein leiser Verdacht

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Am vergangenen Sonnabend sollten meine Frau und ich die zweite Impfung bekommen – ein Moment, dem wir angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen – Achtung, Kalauer! – entgegenfieberten. Eine Stunde, bevor es so weit war, erhielten wir einen Anruf von der juku meiner Tochter. Der Direktor erkundigte sich, wie es uns so ginge, bevor er mit der schlechten Nachricht rausrückte: Leider sei unsere Tochter nun 濃厚接触者 nōkō sesshokusha – eine Person, die sich in unmittelbarer Nähe einer positiv getesteten Person aufhielt. In ihrer Klasse gibt es sechs Schüler, und eine der sechs Schülerinnen wurde positiv getestet. Da die beiden sich vor ein paar Tagen im gleichen Unterricht befanden, gilt sie nun als Risikoperson.

In Japan verfolgt man seit Beginn der Pandemie das Tracing, und das ist natürlich vom Prinzip her sinnvoll. Wird jemand positiv getestet, dann wird vom 保健所 hokensho, dem Gesundheitsamt, ermittelt, wer in den vergangenen Tagen in engem Kontakt mit der Person stand. Das sind in erster Linie natürlich die Mitbewohner, sprich Eltern und Geschwister und dergleichen, sowie die Klassenkameraden, die Schüler im gleichen Zirkel usw. Diese Personen werden dann zu Risikopersonen („Personen mit engem Kontakt“) erklärt und gebeten,

  1. Einen PCR-Test zu machen, gestellt vom Gesundheitsamt
  2. Sich vorsorglich zwei Wochen lang in Quarantäne zu begeben

Dass so etwas auf uns zukommen wird, ahnten wir schon, denn in der gleichen juku bildete sich augenscheinlich ein Cluster. Ein Lehrer infizierte über zehn Schüler, und andere Lehrer und Schüler sind auch betroffen. Eine Freundin meiner Tochter hatte es erwischt: Am 26. Juli bekam sie Fieber, das auch nach 5 Tagen nicht wegging.

Leider ist das System jedoch momentan zusammengebrochen. Weder die Freundin noch wir erhielten einen Anruf vom Gesundheitsamt. Damit taucht die Freundin, seit Tagen mit den typischen Symptomen konfrontiert, in keiner Statistik auf. Sie wurde noch nicht einmal getestet. Wir hatten zum Glück noch ein PCR-Testkit zu Hause, das wir am Sonnabend umgehend abschickten. Heute morgen, am Montag, kam der Bescheid: Negativ. Meine Tochter springt auch, das kann ich bestätigen, seit Tagen kerngesund durch die Wohnung. Wir hoffen, dass das so bleibt – ihretwegen, aber auch deshalb, weil ein positiver Bescheid uns Eltern umgehend in zwei Wochen Quarantäne zwingen würde.

Heute gab es wieder einen Anruf der juku zur Lage. Demzufolge sagte das Gesundheitsamt der juku, das man momentan mit einem Cluster bei einem Basketballzirkel an einer anderen Mittelschule alle Hände voll zu tun hat – und deshalb die juku (eine private Institution, wohlgemerkt) bat, die Testkits an alle Schüler zu verteilen. Noch mal zum mitschreiben: Das staatliche Gesundheitsamt, verantwortlich für die Eindämmung der Pandemie, erklärt, dass es zu beschäftigt sei, und bittet eine private Schule, das Testen und alles andere selbst in die Hand zu nehmen.

Tokyo und die umliegenden Präfekturen vermelden seit Tagen immer neue Rekorde, und die Inzidenz dürfte nun bei über 100 liegen – das ist neu in Japan. Oder? Allmählich regt sich bei mir ein leiser Verdacht. Wenn ich zwei Koeffizienten, beide subjektiv, aber dennoch mit einer gewissen Aussagekraft, betrachte – und zwar

  1. Die Frequenz der Notarztwageneinsätze in meiner Gegend
  2. Die Zahl der Corona-Fälle, von denen ich in meinem Umfeld höre

so passiert das, was momentan passiert, nicht zum ersten Mal – die Lage war vor gut über einem Jahr ähnlich. Damals wurden jedoch nicht 4,000 und mehr Neuinfizierte allein in Tokyo berichtet, sondern um die 100. Das war schon deshalb verdächtig, weil es schwer vorstellbar war, dass gerade ich so viele positiv Getestete kennen soll. Bei 11 Millionen Einwohnern musste das schon ein großer Zufall sein.

Immerhin zeigt sich die Politik besorgt und macht das, was sie immer macht: Sie bittet die Einwohner, nicht zu verreisen, Abstand zu halten und von zu Hause zu arbeiten. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

18 Kommentare

  1. Hallo,
    dann drücke ich euch mal die Daumen, das es eure Tochter wirklich nicht erwischt hat.
    Hört sich leider alles nicht so gut an, und schmälert meine Hoffnungen für einen Japanurlaub im nächsten Jahr.
    Schon besorgniserregend wenn das Gesundheitsamt zugibt das es überlastet ist, da kann man nur Annehmen das die Dunkelziffer der Infektionen deutlich höher ist, zumal vermutlich jeder der sich krank fühlt 3 mal überlegt ob er sich testen lässt.

  2. Kurz vor der Zielgeraden und dann so eine Vollbremsung. Ich hoffe ihr bekommt die zweite Impfung so schnell wie möglich! Ich war vor einiger Zeit selber beim Test. Kann das alles also sehr gut nachvoll ziehen. Die Wartezeit bis man das Ergebnis per Telefon gesagt bekommt, ist der Real gewordene Alptraum… Bei uns war ich der, der sofort in Isolation geschickt wurde, also extra Zimmer ohne Kontakt zur Familie zum Glück ein Fehlalarm. Alles gute für Euch!

  3. Hallo,
    Eine Frage die mich schon lange beschäftigt , vielleicht kann jemand der in Japan lebenden mir dazu etwas sagen:
    Warum tragen die Japaner keine Fitermasken, vergleichbar unseren FFP2?
    Alles was ich in den Medien beobachten kann, auch bei Olympia (nur Ausländer tragen wohl mitgebrachte FFP2-Masken) werden in Japan hauptsächlich OP-Masken, Alltags Masken oder die gegen Erkältung und Pollen schützenden japanische Masken (PM 2.5 Norm) getragen, die aber die kleineren Coronaviren nicht rausfiltern. Auch von meiner in Japan lebenden japanischen Schwiegermutter und vom bekanntenkreis in Japan habe ich keine andere Info bekommen können.
    Hier in Bayern, wo wir leben ist es immer noch normal dass wir FFP2- Masken in Verkehrsmitteln, Geschäften, Arztpraxen, usw. tragen müssen und es scheint sich ja bewährt zu haben. Kann es wirklich sein dass man in Japan darauf noch nicht gekommen ist oder gibt es andere Gründe, warum ist selbst die Älteren, Ungeimpftenund, zur Risiko gehörenden Japaner immer noch nicht die schützenden Masken tragen?
    Um eure Einschätzung wäre ich echt dankbar.

    • So etwas erinnert mich immer an die Deja-vu-Sache im Film „Matrix“. Alles stimmt halbwegs, aber dann sind da diese merkwürdigen Sachen – wie zum Beispiel die FFP2-Masken, die in Japan noch nie im Gespräch waren. Mir fallen dazu nur zwei Theorien ein:

      1) Der Nutzen von FFP2-Masken gegenüber den hier handelsüblichen Masken ist vernachlässigbar
      2) Man wüsste nicht, wie man die Bevölkerung mit FFP2-Masken versorgen könnte – daher werden sie bewusst nicht erwähnt

      Ich bin nicht sicher, warum es ist, wie es ist, aber das ist mir beim Verfolgen der deutschen Nachrichten schon seit dem letzten Jahr nicht aus dem Kopf gegangen. Sollte sich die Corona-Lage in Japan allerdings nicht bald beruhigen, könnten diese Masken sehr wohl bald ins Gespräch kommen.

  4. Alles nicht so einfach gerade … Der jungen Dame (und Euch auch) drücken wir die Daumen, was den Test anbelangt. Es scheint gerade nicht nur in Japan und im Umfeld der Olympischen Spiele schwierig zu sein, sondern im gesamten asiatischen Raum. So langsam setzt sich der Eindruck durch, dass es im Umgang mit dem Virus keine richtigen oder falschen, guten oder besseren Strategien gibt, sondern nur unterschiedliche Ansätze.

  5. Hallo,
    bei alle dem denke ich immer, Gott sei dank war es „nur“ eine Krankheit wie Corona. Nicht falsch verstehen, natürlich sind viel zu viele gestorben, aber man stelle sich vor es wäre etwas mit der Sterberate von Ebola gewesen.
    Da währen alle Vorkehrungen, in allen Ländern zu spät gewesen. Corona hat uns gezeigt wie schlecht die Regierungen der Welt mit eine Pandemie umgehen können, und wie Lückenhaft und unzureichend alle vorhandenen Modelle waren.
    Man kann nur hoffen und beten, das die Verantwortlichen daraus lernen.

  6. Das Problem ist ja die Inkubationszeit. Die ist bei Ebola wesentlich kürzer (und die Symptome sind viel deutlicher), weshalb es Ebola, Pest & Co. nicht so weit bringen würden. Die Leute würden sterben, bevor sie zahlreiche andere Leute anstecken. Aber es ist schon richtig – wesentlich gefährlichere Virusarten, mit langer Inkubationszeit und hoher Mortalität – sind sicher nicht nur theoretisch möglich. In dem Sinne gebe ich Dir natürlich recht – man kann nur hoffen dass die Regierungen (aber auch die Individuen) ihre Schlüsse aus dieser – genügend horrenden – Generalprobe ziehen.

  7. Die FFP2 Maske entspricht glaub der KN95 Maske und sowas gibt es jetzt auch bei Daiso und ich sehe mehr Leute damit, weil die auch einfach angenehmer zu tragen sind. Was mir aufgefallen ist, bei normalen Masken,wenn abends die Mücken unter die Maske fliegen, dann ist sie nicht dicht, also taugt das wohl auch nix. Bei Regen oder bei der Schwüle hier wird eine Maske auch schnell feucht/nass und dann taugt das ja auch nix, dann müsste man viel öfter wechseln. Viele Leute hier denken wohl, einfach mal ein Stück Stoff vor den Mund ist genug. Das mit dem Abstand halten funktioniert auch nicht. Dass Japan bisher soviel „Glück“ hatte grenzt meiner Meinung nach an ein Wunder.

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