BlogGefangen zwischen Xenophobie und Ehre

Gefangen zwischen Xenophobie und Ehre

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Dass viele Japaner ein ambivalentes Verhältnis gegenüber Ausländern haben ist weitgehend bekannt. Auf der einen Seite steht „omotenashi“, eine besondere Art der Gastfreundschaft, auf der anderen Seite das unterschwellige Selbstbewusstsein, dass alles ausländische suspekt ist. Eine Kundin meiner Firma hatte dies erst gestern schön illustriert. Sie hatte ein in den USA hergestelltes Lehrmaterial gekauft, und wie sich später herausstellte, war ein Teil ziemlich verschmutzt (das konnte man jedoch erst erkennen, wenn man das Produkt geöffnet hatte). Der Kommentar der Kundin: „外国製品だから仕方ないのでしょうかね“ — in etwa „da es im Ausland hergestellt wurde, kann man wohl nichts machen“. Ebenso eine ältere Dame, die einmal im Zug einen Mann anbrüllte, der in der „Silberecke“, dem Bereich für ältere Menschen, Schwangere usw. an seinem Mobiltelefon rumfuchtelte, was man dort jedoch eigentlich nicht machen soll: „Dass sich ein Ausländer nicht an die Regeln hält (und zeigt damit mit nacktem Finger in mein Gesicht – mein Handy war wohlgemerkt in der Tasche verstaut) ist ja nichts Neues, aber Sie als Japaner sollten sich schämen“. Und dann ist ja da auch noch der Klassiker: Die Wahrscheinlichkeit, dass der leere Sitz neben einem in der Bahn leer bleibt, ist für Ausländer wesentlich grösser als bei Japanern.

Mit diesem Hintergrund bin ich neulich auf eine interessante Geschichte gestoßen – den sogenannten 大津事件 Ōtsu-Zwischenfall. Ōtsu ist ein Ort am Biwa-See, unweit der alten Kaiserstadt Kyoto, und am 11. Mail 1891 reiste Zarewitsch Nikolaus, später dann als Zar Nikolaus II. bekannt, durch den Ort: Er war mit seinem Gefolge auf Staatsbesuch in Japan, und auf dem Programm stand unter anderem ein Abstecher zum Biwa-See. Mit Rikschas ging es danach zum Ort zurück, der sicherheitshalber – es gab eine Attentatswarnung – von Polizisten gesäumt war. Einer dieser Polizisten, Tsuda Sanzō, sprang jedoch aus der Menge und versuchte, Zarewitsch Nikolaus mit seinem Säbel zu töten. Lediglich der Hut des Prinzen und das beherzte Eingreifen der Rikschafahrer retteten sein Leben. Und das Attentat setzte einiges in Gang.

Als der Meiji-Kaiser davon erfuhr, schickte er sofort seine Leibärzte los, und er fuhr selbst umgehend nach Kobe, von wo Nikolaus nach Russland heimzukehren gedachte. Der Kaiser traf sich vor der Abfahrt mit ihm. Die Nachrichten vom Anschlag auf einen Staatsgast machten schnell die Runde, und ein Gefühl der Scham machte sich breit: Zehntausende Japaner schickten Geschenke und Entschuldigungsbriefe an den Zarensohn. Und nicht nur das: 畠山 勇子 Yūko Hatakeyama, die 27-jährige Tochter einer verarmten Bauernfamilie, schickte Entschuldigungsschreiben an das russische Konsulat, fuhr daraufhin zum Präfekturamt von Kyoto und schnitt sich dort mit einem Rasiermesser den Hals auf. Sie verstarb noch am selben Tag im Krankenhaus.

Dieser Fall ist natürlich extrem – es gibt aber auch durchaus Stimmen, dass ihr Selbstmord möglicherweise Schlimmeres verhindert haben könnte. Japan war zu dem Zeitpunkt noch mitten in der Modernisierung und vergleichsweise schwach – und die Gefahr, dass das mächtige Zarenreich mit einer Kriegserklärung auf das Attentat reagiert, war sicherlich gegeben. Interessant ist jedoch die Tatsache, dass zehntausende Japaner besagte Schreiben und Geschenke an den Zarensohn schickten.

Dieses Gefühl, Ausländer lieber dort zu wissen, wo sie herkommen – im Ausland eben – andererseits jedoch extrem um das Ansehen des eigenen Landes im Ausland besorgt zu sein – kann man noch immer spüren. Für mich ist dies eine der mysteriösen Eigenarten der Menschen hier.

 

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

6 Kommentare

  1. Das erinnert mich daran, dass es auf Youtube jetzt viele Videos gibt, wo Japaner erklären, dass Amerikaner Worte wie „Hentai“ falsch benutzen und mehr Respekt vor einer anderen Sprache haben sollen. Finde ich ironisch, wenn man bedenkt wie die Japaner Worte aus anderen Sprachen in ihren Wortschatz integrieren.
    Da wird irgendwie deutlich, dass es für Japaner sehr schwierig ist einen Perspektivwechsel anzunehmen. (Ist für Europäer und Amerikaner bestimmt auch schwer, aber ich glaube wir haben da durch den Multikulturalismus etwas mehr Übung)

  2. Ich denke, die Ambivalenz Fremden gegenüber ist nicht nur in Japan sondern in vielen Kulturen vorhanden gewesen
    z.B. Römer hostis bedeutet nicht nur Feind, sondern auch Fremder/Gast ähnlich bei den Griechen Xenos Fremder aber auch Gastfreund („Xenia“). In Japan sicher sehr ausgeprägt, ob durch Insellage oder jahrhundertelange Abschottung sei dahingestellt.
    Aber Japan hat sich verändert, während in den frühen 70er Jahren die Antwort auf eine von mir auf japanisch gestellte Frage an einen zufälligen Passanten in der Regel „No English, sorry“ oder (sehr selten) eine Antwort auf englisch war, ist es mir in den letzten Jahren schon passiert, daß i c h auf der Straße japanisch angesprochen und z. B. nach dem Weg gefragt wurde.
    Andererseits Touristenbüros (jap.) auf dem Bahnhof, Bitte um Hotelbuchung, Telefonat der Büroangestellten mit dem Hotel „er ist (zwar) Ausländer, spricht aber (perapera) japanisch“, immer wieder lustig.
    Bleibt die Frage, wann kann ich endlich wieder nach Japan fahren.

    • Wohl war. Und das Japan der 1990er war ja auch noch weitestgehend so – in der Hinsicht hat sich wirklich viel geändert. Tja, und für mich stellt sich die Frage, wann ich mal wieder nach D reisen kann. Hoffen wir, dass der Spuk mal irgendwann sein Ende hat.

  3. Ich denke, du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Vergleicht man den Umgang mit Menschen aus dem Ausland in J und D. , so liegen Welten dazwischen. Es fängt schon bei der Ausländerbehörde an. Und dass damals ein wohl psychisch ziemlich instabiler Mann den zukünftigen Zarren angegriffen hat, ist wohl kein Beweis für eine grundlegende Einstellung der Menschen.

  4. Hallo,
    das mit dem lehren Platz im Zug kann ich bestätigen, ich saß relativ oft alleine, das heisst rechts und links ein Platz frei. Sowol in Bussen als auch ihn Zügen, einige Mitfahrer zogen sogar stehen vor, das war zwar nicht immer der Fall aber doch in bestimmt 80% der Fälle. Wobei man dazu sagen muss, das ich mit knapp 190 und schwarzer Lederjacke auch in Deutschland gerne mal einen Platz für mich hatte :-)

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