BlogIwate 9 Monate nach dem Tsunami: Teil II

Iwate 9 Monate nach dem Tsunami: Teil II

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(Teil I ist hier)
Ich beeile mich, zur Haupstrasse zu gelangen – die verläuft parallel zum Fischereihafen und führt Richtung Zentrum. Plötzlich gibt es eine Lautsprecherdurchsage in der ganzen Stadt, eingeleitet von einem „ding dong dong ding!“ Lautsprechersysteme gibt es in allen japanischen Städten und Nachbarschaften, und normalerweise werden sie nur zu festlichen oder traurigen Angelegenheiten genutzt. Während der kommenden Jahre werde ich diese Durchsagen jedenfalls mit Sicherheit mit der Zeit nach dem Beben assoziieren – „Ding dong dong ding – bitte gedulden Sie sich noch ein paar Tage, bis das Wasser wieder da ist“, oder „ding dong dong ding – in 30 Minuten wird der Strom abgestellt“ waren da typische Durchsagen. In Miyako warnte die Durchsage hindes vor einer höheren Flut als üblich. Da, wie im vorigen Teil bereits erwähnt, weite Gebiete entlang der Küste um mehrere Meter nach unten absackten, bedarf es heuer keines Tsunami und keiner Springflut mehr, um Teile der Stadt unter Wasser zu setzen. Ende der Durchsage.

Tankstelle in Miyako
Langsam laufe ich Richtung Bahnhof zurück. Das Meer sehe ich dabei nicht, da es hinter einem grossen, schwarzen Betonwall versteckt liegt. Jenen hatte der Tsunami mühelos überwunden, aber nicht zerstören können. Bis ins Stadtzentrum hinein sind die Spuren der Katastrophe noch erkennbar – vereinzelte Häuser fehlen, bei anderen ist das Erdgeschoss zugenagelt, einige Tankstellen und andere Anlagen sind zwar freigeräumt, stehen aber nachwievor stark zerstört herum.
Nach einer kurzen Runde und einer Stärkung im überschaubaren Zentrum von Miyako laufe ich über eine Brücke Richtung Süden, denn dort steht mein Hotel. Zwei der drei Brücken, darunter die Eisenbahnbrücke, wurden zerstört. Die Strassenbrücke wird gerade wieder hergestellt, aber die Bahn wird wohl in den kommenden Jahren nicht fahren. Bis zum Hotel läuft man eine gute dreiviertel Stunde – auch hier das gleiche Bild: Hohe Schutzmauer zwischen Stadt und Hafen, und starke Zerstörungen hinter der Schutzmauer. Aber immerhin steht hier noch mehr als die Hälfte. Das Hotel hatte es damals auch erwischt – das gesamte Erdgeschoß war damals unter Wasser und kann immernoch nicht genutzt werden. Im Hotelzimmer entsprechende Anweisungen: Bei Tsunamiwarnungen mindestens bis in den 3. Stock laufen, alles darüber ist sicher. Nachts finde ich gottseidank eine kleine Rāmen-Bude in der Nähe – mehr gibt es nicht, auch keinen Konbini oder ähnliches. Das einzige, was es in der Nähe gibt, ist ein riesengrosser Pachinkoladen, und der sieht nagelneu aus. Die Rāmen heben meine Stimmung auch nicht gerade: So schlechte Rāmen habe ich seit langem nicht mehr gegessen.
Autowracks im Hafen von Miyako
Morgens geht es gegen 8 Uhr raus. Erstmal wage ich aber einen Blick aus dem Fenster – von dort kann man schön die Bucht und Teile des Hafens überblicken. Sowie einen grossen Autofriedhof, auf dem die nach dem Tsunami eingesammelten Autowracks zusammengeschoben wurden. Ich packe meine Sachen und begebe mich zur Bushaltestelle. Der Bus kommt auch fast pünktlich und fährt immer die Küste entlang bis nach 陸中山田 Rikuchū-Yamada. Der Bus fährt Berge hoch und Berge runter, zur Küste und wieder von der Küste weg. Kaum sind wir in Wassernähe, ist alles zerstört. Kaum fahren wir weg, sieht alles ganz normal aus. Vom Stadtzentrum der Gemeinde Yamada steht nur noch ein Betondeich und vier modernere Wohnblöcke, die scheinbar bis zum 2. Stock überschwemmt worden waren. Alles andere ist weg – nur noch Fundamente stehen. Der Bus fährt quer durch den ehemaligen Ort, hier und da steigen eins, zwei Leute ein und bald wieder aus. Hinter dem Ort geht es eine Anhöhe hinauf, und der Bus hält an einem 道の駅 Michi-no-eki – einer Art grösserer Raststätte an Fernverkehrsstraßen. Solche Raststätten gibt es überall.
Die Gegend sieht fantastisch aus – das Meer, die Bucht, die Berge – eine traumhafte Landschaft. In der Raststätte hängen Photos von Yamada nach dem Tsunami: Offensichtlich rollte der Tsunami erst über die Stadt hinweg, und anschliessend brannte der Rest der Stadt nieder. Ein grauenhafter Anblick auf den Photos – schwelende Trümmer in trübem, brackigen Wasser.
Bucht von Rikuchū-Yamada
In der Raststätte warte ich auf den nächsten Bus, der mich dann nach Kamaishi bringen soll. Der Ort ist nur gute 45 Minuten entfernt. Während ich da so warte, nähern sich mir zwei Japanerinnen: Eine sehr junge Frau und eine ältere Frau. An irgendetwas erinnert mich diese Kombination, aber ich komme nicht rechtzeitig drauf, denn schon spricht mich die junge Frau an – auf Englisch, ob ich Japanisch könne. Ja ja. Ob ich durch das Katastrophengebiet toure. Nein, eigentlich nicht. Bin nur auf der Durchreise. Ja, sie seien auch auf Tour durch das Katastrophengebiet – um Trost zu spenden. Eine böse Ahnung bewahrheitet sich: Sie sind Zeugen Jehovas, auf Seelenfang. Ich bleibe freundlich, aber schmallippig. Ob ich nicht… „Nein, ich bin Atheist“ (stimmt zwar nicht ganz). Ich will die beiden nur noch los werden. Die Menschen hier können die Zeugen Jehovas bestimmt genauso gut gebrauchen wie ein drittes Bein.
Endlich kommt der Bus und ich bin die beiden los. Neben mir sitzen zwei Fahrgäste im Bus, irgendwo vor mir. Nach etlichen Kilometern kommen wir an einem provisorischen Krankenhaus in den Bergen vorbei. Dann geht es steil abwärts zu einer weiteren Bucht. Der Name auf dem Strassenschild kommt mir sehr bekannt vor: 大槌 Ōtsuchi. Das war doch die Stadt, in der nach dem Tsunami fast alle Einwohner vermisst waren! An einem zerstörten Krankenhaus vorbei geht es in die Stadt beziehungsweise dahin, was davon übrig blieb. Und das ist nicht viel. Es sieht genau so aus, wie auf den Photos von Nagasaki und Hiroshima nach dem Atombombenabwurf: Hier und da steht der Rest eines robusteren, höheren Gebäudes – alles andere ist einfach weg. Ein absoluter Albtraum. Diese Stadt wurde wirklich völlig ausradiert, doch der Bus fährt seine ganz normale Route ab. Dann biegt der Bus nach rechts ab, Richtung Inland. Ein Schwenk des Blickfeldes, doch auch hier: Alles weg. Da hinter mir niemand sitzt, filme ich einen Stück der Fahrt mit meiner Kamera:

Karte des Zentrums von Ōtsuchi: Fast das ganze Zentrum lag unterhalb des Meeresspiegels
Schaut man sich allein Ōtsuchi an, grenzt es fast an ein Wunder, dass die Opferzahl die ist, die sie ist. Allein in dieser Stadt würde die Zahl nicht weiter verwundern. Der Bus hält derweilen auf Fahrgastwunsch an, und zwar an der Bushaltestelle 中央公民館 (Zentrales Gemeindehaus). Nur – da steht nichts mehr. Eine der beiden Fahrgäste steigt trotzdem aus. Mein Gott, was müssen die Bewohner dieser Stadt hier durchgemacht haben. Und was wird hier in Zukunft geschehen? In Miyako hatte ich bereits beobachtet, was ich beinahe befürchtet hatte: Viele Leute bauten einfach ihre Häuser an der gleichen Stelle wieder auf. In Ōtsuchi herrscht jedoch, soweit ich weiss, Baustopp. Die Frage ist nicht, wann, sondern ob und wenn ja wo man wieder bauen wird. Wird die Stadt womöglich aufgegeben? Das besonders prekäre in der Stadt war übrigens die Tatsache, dass der Bürgermeister und alle Abteilungsleiter im Rathaus vom Tsunami mitgerissen wurden: Die Bewohner der Stadt waren deshalb nach dem Tsunami für mehrere Tage komplett auf sich allein gestellt, es gab keine Verbindung zur Aussenwelt.
Mehr im Teil 3 später: Dann aus Kamaishi.
Links:
YouTube: Tsunami in Miyako
YouTube: Tsunami in Yamada
YouTube: Tsunami in Ōtsuchi

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

3 Kommentare

  1. In Minami-sanrikuchou sah es auch so aus wie in dem Video. Ich wuerde mir wuenschen, dass japanische und auslaendische Medien ein paar Dokumentationen machen / ausstrahlen, die die Situation 9 Monate oder auch ein Jahr nach dem Beben zeigen. Ich glaube, viele Menschen im In- und Ausland haben das Beben schon wieder halb vergessen.

  2. Die Bilder haben mich auch sofort an Hiroshima und Nagasaki erinnert. Ein entsetzlicher Anblick. Ich war im August 2011 in Sendai und auch in Iwate, allerdings nur im (sehr schönen) Morioka. Wenige Monate nach der Katastrophe wollte ich dennoch nicht auf die Reise verzichten, denn mein Herz sagte mir, ich muß trotzdem hin.
    Ich habe allerdings darauf verzichtet mir die verwüstete Küste von Sendai anzusehen, dazu konnte ich mich nicht überwinden. In der Stadt sieht man nur wenige Schäden, Spuren der Katastrophe habe ich nur während der Bahnfahrten und im Raum Matsuhsima gesehen. Bin von Matsushima aus ein Stück an der Küste entlanggelaufen und dort konnte man die Schäden noch deutlich erkennen. Auch strömte noch ein unangenehm Geruch aus den schwer beschädigten Häusern. Allerdings kam die Region noch glimpflich davon, die Häuser wären teils schwer beschädigt, aber die meisten Standen noch. Etwa 30 bis 40 Meter von der Küste entfernt standen sogar alle noch. Die zahlreichen kleinen Kieferninseln haben den Tsunami wohl abgeschwächt, soweit ich gelesen habe.
    Jedenfalls war schon das ein erschütternder Anblick, aber das Video aus Ōtsuchi ist eine ganz andere Dimension. Furchtbar, was die Leute mitgemacht haben müssen.
    Gambare Nihon

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