Dank Wasserkocher im Zimmer kann der Morgen problemlos beginnen — und zwar kurz nach 7 Uhr, denn um 8 soll mich ja der Guide vom Hotel abholen. Was wird das werden? Hat der Guide wirklich Ahnung? Wie viele Leute werden dabei sein? Und was für Leute? Eine Horde chinesischer Omas, die nicht laufen wollen, wären zum Beispiel ein Alptraum. Und wie ist das eigentlich mit dem Gendern, wenn ich „Guide“ benutze? „Die Guide“ oder gar „Guidin“ geht ja wohl schlecht. Egal. Ich erinnere mich an die Mongolei zurück: Da ich im Winter da war — zu einer Zeit, zu der es so gut wie keine Besucher gibt — und damit auch so gut wie keine Möglichkeit, der Hauptstadt zu entfliehen — hatte ich eine 2-Tages-Tour gebucht, mitten in die Pampa, mit einem sehr fähigen Guide und Fahrer. Das kostete zwar gut 300 Euro, aber das war es letztendlich auf jeden Fall wert.
Ich warte vor dem Hotel, doch der Guide meldet sich und sagt, dass er sich ein bisschen verspäten werde — 15 oder 20 Minuten. Gut. Vielleicht gehe ich dann doch mal schnell zu dem Café um die Ecke, welches ja um 8 Uhr aufmachen soll, um eine Kleinigkeit zum Essen zu holen. Ich habe zwar überhaupt kein Problem damit, bis in den späten Nachmittag hinein rein gar nichts zu essen, aber Wandern, erst recht in den Bergen, macht mitunter doch etwas hungrig. Jedoch: Das Café hat zwar bereits geöffnet, aber zu Essen gibt es noch absolut gar nichts. Nun gut. Wenig später taucht dann der Guide auf, und zwar allein und in einem relativ alten Mazda. Er sieht sehr freundlich aus, und spricht verständliches Englisch. Nicht perfekt, aber allemal genug, um sich normal zu unterhalten. Also keine Gruppe, sondern wirklich ein Guide nebst Fahrzeug, ganz für mich allein. Besser kann es nicht laufen.
Wir düsen los — es geht in den nahegelegenen Ala-Artscha-Nationalpark, keine 100 km vom Stadtzentrum entfernt. Der Park beginnt bei 1800 Höhenmetern, und der höchste der über 50 Berggipfel ist immerhin 4895 m hoch. Deutlich höher als der Fuji-san also, der mit 3667 m höchste Berg, den ich selbst bestiegen habe. Natürlich geht es heute nicht weit rauf, schließlich haben wir nur etwas mehr als einen halben Tag. Ach so, es gibt auch rund 20 Gletscher im Nationalpark — die werden aber auch in dieser Gegend der Erde immer kleiner und weniger, wie ich unterwegs erfahre.
Wir verlassen Bishkek verhältnismäßig zügig. Während es in der Hauptstadt schön grün ist, wird es außerhalb recht kahl und braun: Eine Steppenlandschaft mit offensichtlich wenig Niederschlag. Und dann beginnen auch schon die Berge — ein paar der schneebedeckten Gipfel kann man ja bereits problemlos vom Zentrum der Hauptstadt und mit bloßem Auge sehen. Für eine Geografen ein interessanter Ort: Hier beginnt das Tienshan-Gebirge, welches fast nahtlos in den Pamir übergeht – dann folgt das Karakorum, und schon ist man in Pakistan, Indien, Nepal… tausende Kilometer von 4000 bis über 8000 m hohen Bergen, fast menschenleer.
Wir unterhalten uns über dies und das, und nach einer guten Stunde sind wir auch schon am Eingang zum Nationalpark. An einem sehr modernen Gebäude stellt man sein Fahrzeug ab, geht hinein und bezahlt 200 Som Eintritt – man kann wohl auch für 800 Som extra mit dem eigenen Gefährt in den Park, aber da es vom Eingang kostenlose Shuttlebusse gibt, lassen fast alle ihr Auto stehen. Sehr vorbildlich. Mit dem Shuttlebus geht es über 2 Kilometer weiter in den Park hinein, bis zum „Alpinistenlager“ – dieses liegt bereits auf 2200 Meter Höhe. Dort gibt es auch ein kleines Restaurant nebst Kiosk, wo wir uns erstmal eindecken. Also ich weniger, denn da ich nicht wusste, was es vor Ort gibt, hatte ich mich natürlich mit Wasser eingedeckt. Ich kaufe uns jeweils einen Kaffee, aber wie es ausieht, sind im Tourpreis auch der Eintritt in den Park und Snacks und dergleichen eingeschlossen, weshalb der Guide gleich auch Sachen für mich kauft. Einen halben Liter Sonnenmilch aufgetragen, die Bandana aufs Haupt und schon kann es losgehen. Erstmal läuft man immer am Ala-Archa-Bach entlang, ein durchaus reißendes Gewässer. Hier gibt es auch, zumindest im Tal, etliche Bäume. Der Weg ist erstmal einfach nur ein Spazierweg – mit Schautafeln, auf denen mehrsprachig erklärt wird, was hier so alles kreucht und fleucht. Unglaublich viele Eichhörnchen zum Beispiel, die auch Futter erwarten. Und diverse Vogelarten, die scheinbar auch gefüttert werden wollen. Gelegentlich flanieren ein paar Leute, aber es sind nur sehr wenige – bei bestem Wanderwetter, wohlgemerkt. Es ist warm, aber nicht zu warm und sehr sonnig. Die vergletscherten Gipfel weiter im Gebirge scheinen zum Greifen nah – wahrscheinlich kann man die ersten innerhalb von 6 Stunden erreichen.
Bald erreichen wir einen kleinen Stausee, und der Guide stellt mich vor die Wahl: Leichter Pfad oder schwerer Pfad. Spaziergang oder Bergwandern. Natürlich Bergwandern! Und ab nun geht es auch etwas kräftiger bergauf. Erst eine Schotterpiste entlang, die zu einem kleinen Plateau führt, auf dem man gerade ein paar Holzhütten hinzaubert, und ab dort einen wunderschönen, schmalen Wanderpfad entlang. Unterwegs treffen wir ein paar Leute und unterhaltens uns jeweils ein bisschen. Die Hälfte stammt aus der Gegend – die andere Hälfte kommt von überall her. So auch vier Frauen aus Nordmazedonien. Ich habe noch nie Nordmazedonier außerhalb ihres eigenen Landes gesehen, glaube ich. Wir laufen ein gutes Stück zusammen und unterhalten uns über alles Mögliche – auf Russisch und Englisch, mit Händen und Füßen. Gerne erinnere ich mich dabei an meine Tour nach Nordmazedonien zurück – vor allem Ohrid hatte es mir damals angetan, aber auch die Gegend um Tetovo. Mit ein kleinem bisschen Genugtuung merke ich, wie mein Guide Mühe hat, mit mir Schritt zu halten: Er ist ein bisschen beleibter, aber mehr als 5 Jahre jünger. Doch das jahrelange Radfahren quer durch Tokyo zum Büro und zurück, und danach die tägliche Lauferei vom Bahnhof zum Büro – dazwischen liegen auch rund 300 Stufen, bei denen ich konsequent auf die Rolltreppe verzichte – machen sich bezahlt. Ich habe absolut keine Mühe, hier immer weiter hochzulaufen – während der Guide immer längere Pausen macht. Kurz vor dem eigentlichen Ziel, dem Aksay Wasserfall, dieser liegt auf rund 2800 Meter Höhe, macht er dann auch schlapp und schaut von unten weiter, wie ich auf die halbe Höhe des Wasserfalls klettere.
Doch was für eine Landschaft: Tiefe, steile Täler, und zahllose Wacholderbäume – denen der Park bzw. der Fluss auch den Namen verdankt, denn Artscha bedeutet Wacholderbaum im Kirgisischen. Steht jedenfalls so geschrieben.
Ich könnte durchaus noch weiterlaufen, es macht richtig Spaß. Aber es ist schon fast um 13 Uhr und Zeit für den Heimweg, denn die Tour geht eigentlich nur bis 16 Uhr. Unterwegs fällt uns eine sehr junge Kirgisin auf, die mit schicken Outdoorklamotten ganz allein und schnellen Schrittes zum Wasserfall wandert. Mit Kopfhörern im Ohr, die sie nur widerwillig rausnimmt, als der Guide sie kurz anspricht. Klar, soll sie machen, wie sie möchte – aber der Klang der Natur macht hier den halben Reiz aus – das rauschende Wasser, der Wind, die Vögel…
Zurück wird es etwas einfacher – aber man merkt, dass erstaunlich wenig Besucher des Parks die 4 Kilometer bis zum oberen Wasserfall laufen. Der Großteil der Besucher, am Nachmittag sind es wesentlich mehr, treibt sich nur im Tal herum. Dort kommen wir dann auch vor 14 Uhr an – und fahren mit dem nächsten Shuttle-Bus zurück. Der Guide wirkt ziemlich geschafft. Aber es gibt noch einen Programmpunkt: Laut Beschreibung der Tour hat man die Option, zusammen mit dem Guide eine traditionelle Mahlzeit einzunehmen. Da es eine Option ist, gehe ich mal davon aus, dass der Kunde für die Mahlzeit bezahlt, und das ist angesichts des Preises der Tour definitiv angemessen. Der Guide fragt, ob wir das machen sollen, und er hat auch schon eine Idee, denn im Dörfchen Kashka Suu, kurz vor dem Eingang zum Nationalpark, gibt es ein Restaurant mit dem Namen Орун Апа (Orun Apa), und das ist, wer hätte das gedacht, auf форель (forelj, also Forelle) spezialisiert. Ich bin etwas skeptisch, denn erstens mag ich das Herumgepule und Gesuche nach Gräten nicht, außerdem lebe ich seit 20 Jahren in Japan, dem El Dorado für Fischgerichte also. Aber warum nicht. Ich bin neugierig. Ein Kilogramm Forelle kostet laut Speisekarte 1200 Som, also 12 Euro. Das Restaurant besteht aus zwei Restaurantgebäuden und zahlreichen kleineren Kabinen – und es ist sehr beliebt, denn selbst an einem Montag nach 14 Uhr herrscht Hochbetrieb.
Man kann die Forelle gebraten oder gegrillt bestellen – der Guide meint, definitiv gegrillt. Nach einiger Wartezeit – mittlerweile habe ich richtig Hunger – werden wir platziert. Bis das Tier kommt, vergeht noch einmal mehr als eine halbe Stunde. ABER: Die Forelle ist perfekt gegrillt, sehr gut gewürzt und äußerst lecker. Das Fleisch ist leicht orangefarben und erinnert sehr an Lachs. An fetten Lachs. Ist es eine Regenbogenforelle? Oder eine Amudarja-Forelle? Oder etwas anderes? Keine Ahnung, aber auf jeden Fall empfehlbar. Nun bin ich aber etwas neugierig und frage den Guide, ob den alle Fische „halal“ sind, also von Moslems gegessen werden können. Er sagt „Klar! Im Prinzip sind alle Tiere, die keine anderen Tiere fressen, halal!“. Ich bin etwas überrascht… Forellen essen doch alles, was nicht schnell genug weggeschwommen ist. Und was ist mit Hühnern? Die fressen doch eigentlich auch Gewürm und dergleichen. Die Erklärung erscheint mir etwas zu einfach, aber in Sachen „halal“ und „kosher“ und dergleichen bin ich weniger als halbgebildet – ein Grund, sich etwas darüber anzulesen.
Nun geht es aber zurück. Ich erzählte dem Guide bereits vorher, dass ich mir noch den Osh Basar ansehen möchte, seines Zeichens wohl einer der größten Märkte Mittelasiens. Er bietet mir an, mich dort rauszulassen, aber vorher hält er noch ganz kurz bei sich zu Hause, denn wir haben die rund 1.5 Kilogramm schwere Forelle (der ganze Schmaus hat gut 2000 Som gekostet) nicht ganz geschafft, weshalb ich ihn fragte, ob er den Rest nicht mit nach Hause nehmen möchte, was er dankend annahm, denn seine Frau war mit Freundinnen gerade im Urlaub in Aserbaidschan – und so passte er allein auf vier Kinder auf. Sein Sohn holte die kostbare Ware ab und wir fuhren weiter, zum besagten Basar. Ich gab dem Guide 1000 Som Trinkgeld, denn er war wirklich sehr gut und angenehm, und versprach ihm, einen guten Kommentar zu hinterlassen (was heutzutage wesentlich wichtiger als jedes Trinkgeld ist). Wir verabschiedeten uns am Basar. Und dort stellte ich sofort fest, dass der Basar geschlossen hat. Und zwar jeden Montag. Ganz toll. Aber es war trotzdem interessant, die riesige Anlage zu sehen – der Teil, in dem Lebensmittel und dergleichen verkauft werden, sieht von außen ganz ordentlich aus, aber der Bereich für Kleidung und alles Andere auf der anderen Straßenseite sah sehr, sehr chaotisch aus.
Pech gehabt. Was tun? Nun, laufen. Der Markt befindet sich unweit der Stelle, an der der Den Xiaoping-Boulevard zum Chuy-Boulevard wird – folgt man dem, muss man ja zwangsläufig zum Stadtzentrum gelangen. Mit dem Guide habe ich mich auch über den wachsenden Einfluss Chinas auf die Region unterhalten, denn die VR China investiert auch hier viel Geld. Er sah die ganze Sache sehr skeptisch und sagt, dass die Kirgisen besorgt sind, denn ihr kleines Land hat ja nur 7 Millionen Einwohner – und man hat nun Sorge, dass das Land quasi ausverkauft wird. Sicher, verdenken kann man ihnen die Sorge nicht, die hat man schließlich selbst in Japan, mit seinen über 120 Millionen Einwohnern…
Ich laufe immer weiter Richtung Osten, an Regierungsgebäuden und anderen palastähnlichen Gebäuden vorbei, bis ich wieder irgendwann am Ala Too-Platz ankomme. Um nicht wieder die gleiche Strecke zurückzulaufen, weiche ich ein bisschen von der Straße ab und bewege mich Richtung Hotel. Von schlendern kann keine Rede sein – ich schleppe mich mehr oder weniger dahin, denn die mehr als 20 Kilometer jeden Tag quer durch die Stadt und die Bergwanderung von heute machen sich dann doch ein bisschen bemerkbar. Und so bin ich dann auch glücklich und erschöpft, als ich gegen 19:30 mein Hotelzimmer erreiche. Dort gibt es dann auch wieder Internet – aber leider keine Nachricht von Tochter und Mutter. Schade.
An der Rezeption erfuhr ich, dass der „Alma Gipermarket“ (im Kyrillischen wird „H“ in Fremdnamen immer mit „G“ transkribiert – deshalb wird aus dem „Hypermarkt“ ein „Gipermarket“) im nahegelegenen GUM Chynar-Kaufhaus bis 21 Uhr geöffnet hat. Ich will unbedingt ein paar Gläser kirgisischen Honig als Souvenir, denn der ist in Japan ein bisschen bekannt (und mit mehr als zehn Euro für ein kleines Gläschen sehr teuer) – und den werde ich doch sicher im Gipermarket finden. Und siehe da – es gibt dutzende Sorten, und ein 250-Gramm-Glas kostet meistens um die 2 Euro. Der Supermarkt ist sehr modern – und interessant. Ich liebe es, in fremden Ländern durch örtliche Supermärkte zu strömern, denn es gibt oft einiges zu entdecken. Da ich aber noch ein paar Reisetage vor mir habe, versuche ich mich zu beherrschen.
Nach dem Supermarkt geht es zu einem Restaurant zwischen Kaufhaus und Hotel, das mir vorher aufgefallen war. Ein russisches Restaurant, mit großem Außenbereich, wo man auch sitzen und essen kann. Es sieht sehr gemütlich aus. Печки-Лавочки (Petschki-Lawotschki“ heißt es – wörtlich übersetzt „Öfen und Bänke“, mit der Bedeutung von „enge Beziehungen“ – und die Speise-und Getränkekarte ist ergiebig und dank Bebilderung gut verständlich. Ich bestelle einen селёдка под шубой – einen „Hering im Pelzmantel“, ein traditioneller russischer Schichtsalat mit Hering, Kartoffeln, roter Beete, Ei und dergleichen, sowie Pelmeni – beides schmeckt hervorragend und rundet den Tag gebührend ab. Ein kurzer, aber schöner Abstecher war das – doch am nächsten Tag heißt es auch schon wieder Abschied nehmen, denn es geht weiter – nach Usbekistan.