So viel vorneweg – in so ziemlich allen Hotelzimmern der Gegend gibt es einen Wasserkocher, Tassen und manchmal sogar ein paar Päckchen Tee und/oder Instantkaffee. Das ist sehr vernünftig – zum Aufwachen reicht es. Ein schlaftrunkener Blick aus dem Hotelzimmer, und siehe da: Gar nicht mal soweit entfernt kann ich schneebedeckte Berge ausmachen. Wie schön. Also schnell die Sachen gepackt und losmarschiert. Ziel Nummer 1 ist der Bahnhof von Almaty, und zwar Almaty 1. Von dort kommt man sicher schnell ins Zentrum. Der große, parkähnliche Bahnhofsvorplatz nebst Statuen und der große Bahnhof selbst erinnern ganz stark an typisch sowjetische Städte — das gilt auch für die Architektur. Wer ins Bahnhofsgebäude will, muss, ganz wie am Flughafen, sein Gepäck scannen lassen, aber so richtig aufmerksam scheinen die Beamten nicht zu sein. An der Anzeigetafel stehen Orte wie Nowosibirsk – sicherlich eine tagelange Reise. An einem Kiosk kaufe ich mir, eigentlich nur, um an Kleingeld zu kommen, einen Kaffee. Die Verkäuferin will wissen, woher ich komme, und sagt anschließend, dass sie einst jahrelang in Merseburg gearbeitet hatte. Der Kaffee kostet keinen halben Euro. Und weiter geht es. Rund um den Bahnhofsvorplatz fahren Busse ab – aber das System ist nahezu undurchschaubar. So steht an den zahllosen Bushaltestellen nicht, welche Linien dort halten. Trolleybusse gibt es auch, aber auch bei diesen ist nicht ganz klar, von wo und bis wo sie fahren. Irgendwann finde ich einen Linienplan und setze mich in den Bus der Linie 227. Die einfache Fahrt kostet 30 Cent – man kann wohl zwar auch bargeldlos mit einer App bezahlen, aber das lohnt sich für mich nicht. Der Busfahrer nimmt widerwillig das Bargeld an und düst los. Entlang einer staubigen Straße, unweit der Bahnlinie. Es wird immer trostloser draußen, und das ist verdächtig. In der Tat: Der Bis fährt in die falsche Richtung. Zumindest von meiner Perspektive aus gesehen. Also schnell raus, über die 6-spurige Straße – ohne Fahrbahnmarkierung – auf die andere Seite zu einer original sowjetischen Bushaltestelle gesprintet und darauf gewartet, dass der Bus der gleichen Linie — hoffentlich — vorbeikommt und mich zurück zum Bahnhof bringt. Das passiert auch nach einer Viertelstunde. Dieses Mal brummt der Busfahrer nur, als ich mit Bargeld bezahlen will, und schickt mich ohne Bezahlung ins Businnere. Da es keine Fahrkarten gibt, hoffe ich einfach mal, dass das als „ordnungsgemäß vom Busfahrer persönlich genehmigte Schwarzfahrt“ durchgeht. Genau das mir im den nächsten beiden Tagen noch mehrere Male passieren.
Wieder am Bahnhof angekommen beginne ich herumzufragen, und endlich erfahre ich, dass die Busse ins Zentrum von der anderen Seite des Platzes abfahren. Ich steige also in einen Bus, der so aussieht, als ob er mich in die richtige Richtung bringen könnte, und beschließe, dieses Mal meinen Standort in Google Maps zu verfolgen, um notfalls schnell aussteigen zu können. Zum Glück hatte ich vorher die Offline-Version der Gegend heruntergeladen – sehr praktisch, denn so brauche ich ja kein Netz, sondern nur ein GPS-Signal.
Der Plan: Natürlich will ich das Stadtzentrum sehen. Außerdem hatte ich schon vorher geplant, die zweite Nacht im Zentrum zu verbringen, in einem ganz normalen Apartment. Welches genauso teuer war wie das Erbil-Hotel. Aber bis zum Check-in ist noch viel Zeit – mit der Betreiberin hatte ich vereinbart, um 14 Uhr aufzukreuzen.
Nach einer guten halben Stunde bin ich tatsächlich dort angelangt, was man als Zentrum bezeichnen kann. Selbiges ist natürlich ziemlich groß, denn die Stadt hat immerhin 2.2 Millionen Einwohner und ist, typisch für in Sowjetzeiten angelegte Städte, sehr großzügig angelegt. Die Orientierung ist vor allem im Zentrum denkbar einfach: Die Straßen sind fast alle rechtwinklig angelegt, und Richtung Norden geht es stetig bergauf. Ist man also auf dem Hinweg immer bergauf gelaufen, braucht man Rückzug immer nur bergrunter laufen. Die Wohngebäude im Stadtinneren sind zwar alt, aber sie sehen nach 1950/60er Jahre aus, was bedeutet, dass die Wohnungen sicher sehr groß sind. Die Straßen selbst sind relativ sauber.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch lande ich am Arbat, der Flaniermeile im Zentrum. Was japanischen Städten die Ginza, ist den ex-sowjetischen Städten der Arbat, der aber bereits in vielen ehemaligen Republikhauptstädten umbenannt wurde. Hier gibt es etliche Geschäfte und ein paar einladende Straßenrestaurants – und da das Wetter sehr angenehm ist, passt das genau zum Mittag. Ich entscheide mich für ein paar gegrillte Hackfleischspieße nebst Brot und Salat, mit denen man sich quasi einen passablen Döner zusammenbasteln kann. Der Mann am Nachbartisch trinkt ein erfrischendes Bier — keine schlechte Idee, aber ich verschiebe das dann doch lieber auf den Abend. Auffällig ist, dass trotz besten Wetters und trotz der Tatsache, dass heute Sonnabend ist, das niemand auf den Straßen unterwegs ist. Touristen schon gar nicht, aber eben auch keine Einheimischen.
An einem heruntergekommenen, ehemaligen Einkaufskomplex geht es vorbei Richtung Südosten, zur Großen Moschee, die relativ neu ist. Man sieht viele Muslime auf den Straßen — gefühlt sind es aber nicht wesentlich mehr als auf den Straßen von Berlin. Der Rest trägt weltliche, und in den meisten Fällen sehr schlichte Kleidung, aber wenn man lange Zeit in Tokyo lebt — eine extrem modebewusste Stadt — erhält man diesen Eindruck fast überall. Die Menschen sind ruhig, man hört nicht allzu viel Gehupe und Geschrei, und als Besucher wird man, von vereinzelten Taxifahrern abgesehen, in Ruhe gelassen. Die Moschee ist in der Tat sehr neu — ein schöner und ausladender Komplex mit Vorplatz und allem. Gut. Nun geht es wieder bergauf, zum nahegelegenen Markt – dem Көк базар (kök Basar). „Kök“ bedeutet „Grün“ (so erschließe ich es zumindest aus dem alten, russischen Namen, und in der Tat: Hier wird hauptsächlich Obst und Gemüse verkauft). In der Markthalle ist ordentlich was los, und neben Obst und Gemüse gibt es durchaus auch ein paar Metzgereien, Käsetheken (mit einer erstaunlichen Vielfalt und Preisen, bei denen man als Käsefan in Japan nur heulen kann) sowie zwei, drei Stände, an denen Honig verkauft wird. Fast ganz Zentralasien ist ja für hervorragenden und sehr preiswerten Honig bekannt — eine Verkäuferin ermuntert zum Probieren.
Der große grüne Basar beschränkt sich nicht nur auf das alte Basargebäude selbst – auch in den anliegenden Gassen gibt es zahllose Läden. Aber nun ist es schon fast 14 Uhr, und zu dieser Zeit habe ich mich mit den Vermietern der Wohnung verabredet. Die Wohnung liegt nicht weit vom Basar entfernt und in Steinwurfnähe eines großen Parks. Das alte, ziemlich heruntergekommene Wohnhaus ist von der Straße durch ein etwas martialisch wirkendes, schwarzes Tor nebst Zaun abgetrennt. Punkt 14 Uhr steht dann auch wirklich eine hektisch wirkende, mittelalte Frau vor dem Tor. Wir begrüßen uns und gehen dann hinein. Sie zeigt mir, dass ich einen kleinen Chip am Schlüssel an einen Knopf neben der Tür halten muss, um hereinzugelangen. Und so dackele ich ihr hinterher, bis durch ein in altes, in schreiender Farbe getunktes Treppenhaus. Die Wohnung ist eine Einzimmerwohnung mit kleiner Küche, Bad und Balkon. Schlicht, alt aber sauber, und definitiv groß genug. Ich rede mit der resoluten Dame auf russisch, aber das wird größtenteils ignoriert – sie hackt ihre Anweisungen in ihr Mobilfunkgerät, um mir dann die englische Übersetzung zu zeigen. Checkout ist 12 Uhr mittags – sie will wissen, wann ich gedenke abzureisen, und ich sage ihr, dass ich noch nicht sicher bin – zwischen 9 und 10 Uhr, denke ich. Sie sagt, ich solle den Schlüssel dann in den Briefkasten werfen. Okay. Ich bezahle – sie hat ein Kartenlesegerät dabei – und frage noch kurz, wie ich wohl am besten nach Көктөбе (Köktöbe) komme, einem berühmten Ort im Südosten der Stadt. Sie meint, zum Laufen ist das wohl zu weit, ich solle am besten ein Taxi nehmen. Gut.
Schnell die Tasche hingelegt, und los geht es. Auf der Karte sieht es gar nicht so weit aus, also laufe ich. Und zwar zuerst zum nahegelegenen „Park der 28 Panfilow-Helden“. Bitte was? Nun, es handelte sich um eine Gruppe von Soldaten, die wohl bei der Schlacht um Moskau im Jahr 1941 18 deutsche Panzer abgeschossen haben, bevor sie – restlos – im Kampf fielen. Panfilow war der Name eines Generalmajors, der die Gruppe anführte. Laut Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Panfilows_28_Helden) war da aber wohl viel Mythenbildung und Propaganda dabei – einige dieser Gruppe lebten angeblich sehr wohl weiter, ein paar sollen sich sogar ergeben haben. Auf jeden Fall kennt jeder in Russland die Geschichte, und es gibt unzählige Monumente und Straßen mit dem Namen. Ganz offensichtlich wird diese Erinnerung auch in Kasachstan weiter gepflegt.
Der streng rechteckige Park hat einiges zu bieten, und er ist sehr gepflegt. Zum einen wären da gewaltige Skulpturen nebst ewiger Flamme, die an den Kampf der Sowjetunion (und damit natürlich auch der Kasachen) im 1., hauptsächlich aber im 2. Weltkrieg gedacht wird. Die Denkmäler und Mahnmale sehen so aus, als ob sie erst am Vortag fertiggestellt wurden. Blitzblank, keinerlei Spur von Graffiti und dergleichen. Keine 200 Meter entfernt davon steht ein gelb-grünes architektonisches Wunder — die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale, erbaut 1907. Das Besondere: Sie wurde ganz aus Holz, und dazu auch noch ohne Nägel gebaut. Das ist auch der Grund dafür, dass sie als eines von wenigen Bauwerken das schwere Erdbeben von 1911 überstand. Lange Zeit als Museum zweckverfremdet, wird sie seit Mitte der 1990er wieder als Kirche genutzt. Man kann sie problemlos betreten – und wie so oft in Russisch-Orthodoxen Kirchen wird man von goldbeladenen Ikonostasen regelrecht geblendet. Nun ja, die Kirche und ich. Im Prinzip Agnostiker, habe ich es mir mittlerweile doch zur Angewohnheit gemacht, so möglich, eine Kerze anzuzünden. Schuld daran hat Japan: Hätte ich die Münzen, die ich insgesamt bisher bei Tempel- und Schreinbesuchen in Japan in die Spendentruhen geworfen und für Amulette ausgegeben habe gespart, wäre ich ein gemachter Mann. Schuld daran hat der japanische Teil der Familie und das „das macht man eben so“-Gefühl. Da ist es nur fair und gerecht, auch in Kirchen ähnliches zu tun, und wenn es nur um den Erhalt der Bauwerke geht.
Nun geht es aber weiter, immer den breiten Dostyk-Boulevard gen Süden, sprich, bergauf. Irgendwann fällt linkerhand ein typisch sowjetisches Bauwerk auf — eines von der Sorte, bei der man sich partout nicht entscheiden kann, ob man es bewundern oder verabscheuen soll. Das Hotel Kasachstan ist eine einzige Betonorgie, aber immerhin mit Springbrunnen. Und nur wenige hundert Meter dahinter befindet sich auch schon die Seilbahnstation zum Köktöbe, dem „Blauen Berg“ (scheinbar bezeichnet das Wort „kök“ beide Farben — grün und blau, was nicht verwunderlich wäre, denn im Chinesischen gibt es auch ein Wort, dass beide Farben gleichzeitig beschreibt). Der Berg ist immerhin rund 1100 m hoch und nicht zu übersehen, denn auf dem. Erg steht ein 372 m hoher, nur aus Stahl gebauter Fernsehturm.
Vor der Seilbahnstation warten rund 20 Leute – es geht etwas chaotisch zu beim Einlass, aber ich habe großes Glück, denn kurz nach mir tauchen ein paar Reisegruppen auf und verlängern die Schlange um ein Vielfaches. Fast alle ausländischen Besucher kommen aus dem Nachbarland China, wie es scheint. Die Fahrt mit der Seilbahn kostet hin und zurück 8000 Tenge – das sind immerhin fast 14 Euro und für lokale Verhältnisse eher teuer. In eine Kabine passen 8 bis 10 Leute – und mit ziemlicher Geschwindigkeit geht es nach oben, hoch über eine Autobahn hinweg. Am oberen Ende: Ein großer Vergnügungspark, der immerhin keinen Eintritt kostet – mit Schießbuden, Spiegelkabinetten, Karussels und dergleichen. Und da Sonntag ist, steppt hier der Bär. Vorerst laufe ich aber schnurstracks Richtung Fernsehturm, denn der hat, wie es aussieht, zwei Aussichtsplattformen. Hätte ich mich besser vorbereitet, würde ich jetzt schon wissen, dass man nicht (mehr) in und auf den Fernsehturm kann – ist vielleicht auch besser so, denn er hat ja jetzt auch schon 50 Jahre auf dem Buckel. Vor dem Fernsehturm steht eine große, aber scheinbar für eine Feierlichkeit reservierte Halle. Daneben gibt es eine Aussichtsplattform, deren Zugang jedoch durch eine Metallskulptur verstellt ist. Also steige ich drumherum, und ich bin nicht der Einzige. Schnell ein paar Fotos gemacht, als ich plötzlich Jemanden auf Russich „Diese Ausländer verstehen das wohl nicht“ oder etwas Ähnliches sagte. Eine tiefe Stimme brummte hinter mir „Komm da raus“ – die Stimme gehörte einem mindestens 2 m großen Muskelprotz. Ja, aber gern doch! Ob ich das Zeichen nicht verstehe, fragte er mich – ein gelber Aufkleber auf der Skulptur war mir in der Tat aufgefallen, aber er schien eher zu sagen „Vorsicht, Stufe“ und nicht „Gehen Sie nicht um diese Skulptur herum“. Angesichts der Muskelmasse ersparte ich ihm aber vorsichtshalber einen Vortrag über gute und schlechte Piktogramme.
Viel mehr gab es nicht zu sehen – also ging es auch schon wieder zurück, nach unten, und den Boulevard entlang Richtung Norden. Das viele Laufen macht hungrig – und etwas müde, also kehre ich in einem nett aussehende Cafe ein. Ich bestelle, und die junge Bedienung macht wirklich alles falsch, Immerhin organisiert sie einen Tisch für mich, denn das Cafe scheint beliebt zu sein. Das liegt vielleicht auch an der Uni nebenan. Der Tisch ist zwar noch schmutzig, aber eine andere Angestellte reinigt ihn. Und schwupp, setzen sich zwei Leute vom Nachbartisch dorthin. Die Angestellte protestierte – aber ich sage der Angestellten und den beiden Gästen, dass mir der Tausch egal ist – ich habe nichts daneben. Die beiden Gäste sind ein etwas schmächtiger junger Mann und seine Mutter. Der junge Mann bedankt sich auf gutem Englisch. Und wir kommen ins Gespräch. Woher ich komme, will er wissen – und beginnt daraufhin, in fast makellosem Deutsch weiterzusprechen. Obwohl er in seinem ganzen Leben nur zwei Wochen in Deutschland war. Die Aussprache ist fast makellos, die Grammatik erstaunlich gut, inklusive durchaus schwerer Satzkonstruktionen. Ich tippe auf obere B2 / untere C1. Wir reden über dies und das, und ich erwähne, dass ich seit Jahrzehnten in Japan lebe. Nun beginnt er auf Japanisch zu reden – auch hier eine gute Aussprache, aber Japanisch kann er „nur“ ein bisschen. Es stellt sich heraus, dass er am örtlichen Spracheninstitut Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Chinesisch und noch ein paar andere Sprachen unterrichtet. Außerdem spielt er Klavier und singt klassische Opern. Wow. Dieser Mann hat den Code entziffert! Ob Sprache oder Musik – für Beides braucht man ein sehr gutes Gehör und die Gabe, schnell komplizierte Muster zu erkennen. Er erinnert mich stark an Vano, ein Sprachengenie aus einem kleinen Bergdorf in Georgien, mit dem ich stundenlang über Sprachen reden konnte. Ich entschuldige mich bei dem Gespräch mehrfach bei der Mutter, die einfach nur zuschaute, aber sie winkte nur freundlich ab – ihren Stolz auf ihren Sohn konnte sie nur schwer verbergen.
Wir vernetzen uns via Instagram und verabschieden uns. Und es geht weiter zurück, zur Unterkunft. Dieses Mal laufe ich an der schönen Abay-Staatsoper vorbei und die breite Fußgängerzone, die Panfilov-Straße, gen Süden. Bis ich wieder am Arbat lande – den Weg von hier kenne ich ja nun schon. Und schon ist es 18 Uhr. Und es geht wieder raus: Ich möchte zum Syrdyk, einem knapp 3 Kilometer entfernten Restaurant, dass sich auf Kamelprodukte spezialisiert hat. In der Abenddämmerung geht es zu Fuß wieder quer durch die Stadt, in der Hoffnung, dass ich dort einen Platz bekommen kann. Die Sorge sollte unbegründet sein: Nur zwei von den rund 10 Tischen in diesem blitzblanken, offensichtlich recht neuen Restaurant sind besetzt. Ich bestelle Pelmeni, die kleinen russischen Teigtaschen, mit Kamelfleischfüllung und einen Salat mit Spinat und Kamelkäse. Und leicht vergorene Kamelmilch. Alles sehr, sehr wohlschmeckend. Ich bin zufrieden. Mit dem Essen, und mit der Welt. Jetzt bin ich angekommen.
Halbwegs gesättigt (im Japanischen würde man sagen zu 80%) mache ich mich auf den Heimweg – inzwischen ist es schon dunkel. Unsicher oder unwohl fühle ich mich nicht – im Gegenteil. Es scheint recht sicher sein – so gibt es auch viele Frauen, die allein durch die Nacht laufen. In einem Irish Pub an der Fußgängerzone genehmige ich mir eine Pinte, aber dort ist es relativ langweilig. In Google Maps mache ich eine Bar unweit meiner Unterkunft aus: „Bar Bolsyn„. Also nichts wie hin. Sie liegt etwas versteckt, nördlich des 28-Pamilov-Heldenparks. Ich darf mich an den Tresen setzen – und staune nicht schlecht, als ich merke, dass mein Nachbar ein recht junger Japaner ist. Wir stellen uns vor und nun staunt er natürlich nicht schlecht. Er gehört zu der Sorte Menschen, die ein Gespür dafür haben, wie man mit Leuten redet. Er hatte sich schon mit dem Barmann und drei Gästen angefreundet – wir kommen nun alle zusammen ins Gespräch, und es sollte recht lustig werden. Der Barmann, ein eher schüchterner, aber leicht verschmitzter Typ, wird vom Japaner gebeten, einen Cocktail zuzubereiten – „egal was, was Du empfiehlst“. Der Barmann zückt zwei Kugeln „Qurut“, auch „Kurt“ geschrieben – in der Gegend überall erhältliche kleine Bällchen, meist aus stark getrocknetem Käse, der geschmacklich am ehesten mit Pecorino Romano verglichen werden kann, nur eben viel trockener und erklärt dem Japaner, dass dies Käse sei. Der Zuruf des Japaners „nur keinen Käse“ kommt zu spät beziehungsweise geht er unter, denn schon landen zwei Kugel im Shaker. Ihnen folgen Wodka, Zitronensaft, Zuckersirup und noch irgend etwas. Nach ein bisschen Geschüttele ist der Cocktail fertig. Und siehe da: Die Käsekugeln haben sich komplett aufgelöst und hinterlassen lediglich einen interessanten, leicht salzigen Nachgeschmack. Alle Achtung. Куртовый блюз (Kurt-Blues) heißt die Eigenkreation, und der Barkeeper reicht auch etwas Kurt-Eis zum Kosten herum.
Zwei Plätze neben mir sitzt eine sehr hübsche Russin – mit der ich mich plötzlich in einer tiefen Diskussion über Bildungssysteme befinde. Auf bestem Englisch. Letztendlich wird aus dem Abend ein kleines Trinkgelage: Mit dem Japaner, dem Bartender und vier sehr lustigen Kasachen aus Aktau, dem Westen des Landes. Das hatte ich so nicht erwartet. Irgendwann nach zwei Uhr beschliessen alle, zu einer nahegelegenen LGBTQ?-Bar weiterzuziehen, aber ich klinke mich dann doch vorsichtshalber aus, denn allzu spät will ich am nächsten Tag nicht los.