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Corona außer Kontrolle – was nun?

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Schaut man sich die letzten Zahlen bezüglich der Neuinfektionen in Japan an, so scheint die Lage unvermindert ernst: Seit mehreren Wochen schon steigen die Zahlen stetig an, und ein Durchschnittswert um die 5,000 für Tokyo und über 20,000 für Japan ist nunmehr Normalität. Die nackten Zahlen deuten auf zwei Sachen hin:

  1. Das Plateau in der Hauptstadtregion scheint erreicht
  2. Die Zahl der Neuinfektionen nimmt im Rest des Landes rasant zu

Nummer 2 steht außer Frage – das ähnelt auch den vorangegangenen Wellen. Doch stimmt 1)? Leider scheinbar nicht. Richtig, es gab Wochen, in denen der Anstieg im Vergleich zur Vorwoche bei 50% oder mehr Prozent lag. In dieser Woche war es ein Anstieg von rund 20%. Leider steigt jedoch auch der Anteil der positiv Getesteten an, und das ist kein gutes Zeichen: Waren vor eins, zwei Monaten noch rund 5% der Getesteten positiv, so sind es in Tokyo nunmehr knapp 30%. Anders ausgedrückt: Man kommt mit den Tests nicht hinterher, und die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher ausfallen.

Damit erreicht Japan erstmals seit Anbeginn der Pandemie Zahlen, wie man sie so nur aus anderen Regionen kannte. Im gesamten Land liegt die Zahl der Neuinfektionen in einer Woche nun bei gut 100 Menschen (pro 100,000 Einwohner) – in Okinawa bei 321 und in Tokyo bei 238.

Die Inzidenzwerte sind das eine. Wie in Deutschland zur Zeit folgerichtig diskutiert wird, sind andere Indikatoren mindestens genauso wichtig, und da sieht es momentan düster aus: In Tokyo, Kanagawa und Chiba gibt es vier Mal mehr Corona-Patienten als Krankenhausbetten. In Kanagawa sind die Intensivbetten zu 100% belegt. Mit anderen Worten: Selbst, wer im kritischen Zustand ist, kommt einfach nicht ins Krankenhaus.

Die Maßnahmen der Regierung wirken angesichts der Lage nach wie vor hilflos. So will man in Shibuya ein kostenloses Impfzentrum einrichten, in denen sich Menschen ohne Anmeldung impfen lassen können. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. In den Nachrichten wird vermeldet, dass bald eine große Lieferung AstraZeneca eintreffen, doch der ist aufgrund der vielen negativen Schlagzeilen längst in Verruf geraten.

Außerdem sollen Sauerstoffstationen eingerichtet werden – zum Beispiel in Turnhallen und anderen größeren, öffentlichen Räumen. Damit bekämpft man jedoch bekanntermaßen nur die Symptome und nicht die Wurzel des Übels. Mediziner und Politiker sind sich in der Hinsicht einig, dass das Verlassen auf die freiwillige Kooperation der Bürger beim ursprünglichen Virus halbwegs ausreichte – bei der Delta-Variante jedoch versagt. Aus dem Grund werden Rufe nach einem Lockdown lauter (den ja Japan noch nie hatte). Laut diversen Umfragen befürwortet eine breite Mehrheit einen Lockdown. Dennoch zeigt sich die Regierung zögerlich, verweist auf rechtliche Hürden und betont immer wieder stoisch, dass ein Lockdown in westlichen Ländern nicht den erwünschten Erfolg hatte.

Das Zögern ist allerdings auch verständlich. Ein Lockdown in der Provinz oder einer 2, 3 Millionen Einwohnerstadt ist halbwegs durchsetzbar. In einer Metropolregion wie Tokyo mit 30 Millionen Einwohnern würde eine solche Maßnahme zu großem Chaos führen (Stichwort Hamsterkäufe allein bei der Ankündigung eines Lockdowns), ganz zu schweigen von den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen. Vor diesem Hintergrund scheint die Entscheidung der Regierung, mehr auf Impfen und auf den Ausbau der medizinischen Versorgung zu setzen, verständlich – leider kommen diese Maßnahmen jedoch zu spät – die Zahl der Coronapatienten, die zu Hause versterben, da sie keinen Platz im Krankenhaus finden, nimmt stetig zu.

Trotz der hohen Inzidenzzahlen ist zudem auch noch unklar, was mit den Schulen geschehen wird. In vielen Schulen enden die Sommerferien in der kommenden Woche – doch ob die Schulen dann öffnen (und danach sieht es momentan aus) ist noch unklar, und das, obwohl die Coronafälle gerade bei den jüngeren Generationen am dramatischsten in die Höhe schnellen.

Der Ausnahmezustand für Tokyo und ein paar weitere Präfekturen, der 4. bisher, und dieser begann bereits am 12. Juli 2021, wurde nun weiter verlängert, und zwar bis zum 12. September. Bei der jetzigen Lage würde es allerdings an ein Wunder grenzen, wenn sich die Situation bis dahin wirklich genügend beruhigt hat.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

9 Kommentare

  1. Lange Zeit verlief die Pandemie aus nicht geklärten Gründen so glimpflich in Japan, dass ich mir wünschte, es möge so weiter gehen, bis alle geimpft sind. Aber nun scheint es erstmals so richtig schlimm zu werden und ich mache mir tatsächlich langsam Sorgen, da der Politik ohnehin die rechtlichen Mittel fehlen, im Ernstfall einen Lockdown zu verhängen. Eigentlich dachte ich, dass Olympia ein Härtetest wird, nach dem es wieder bergauf gehen wird.

    • Wie es aussieht, haben die Olympischen Spiele direkt keine grosse Rolle gespielt — indirekt aber schon, denke ich mal. Die Leute sind spürbar unvorsichtiger geworden, da die Politik ja seit 18 Monaten immer wieder die gleichen Phrasen benutzt.

  2. Ich verstehe trotzdem nicht, warum Japan keine schärferen Maßnahmen einführt.
    Ok, wenn man Angst davor hat, dass ein harter Lockdown zu Hamsterkäufen führt, dann könnte man doch wenigstens so Sachen einführen wie FFP2-Maskenpflicht, Ausgangssperre nachts außer aus triftigem Grund und Kontaktbeschränkungen.

    • Yep. Man hat einfach darauf gebaut, dass Japan immer wieder so glimpflich davonkommt. Und das sich die Jüngeren nur selten anstecken. Beides stimmt offensichtlich nicht mehr – aber man zögert immer noch und weiss nicht so recht, was zu tun sei. Ich nehme mal an, dass die Verantwortlichen immer noch darauf hoffen, dass die Welle bald von allein abebbt.

    • Es wird offenbar recht kontrovers diskutiert, zumindest liest sich das bei Asahi Shimbun so (hier: https://www.asahi.com/ajw/articles/14421218). Wobei ich mich frage, was der pädagogische Wert ist, Kindern den Zutritt zum Stadion zu ermöglichen … Bei den meisten Sportveranstaltungen sieht man am Fernseher einfach mehr. Wenn es darum geht, Höchstleistungen unter besonderen Voraussetzungen adäquat zu zeigen, wäre das also die logischere Wahl. Wobei mir der pädagogische Wert von Paralympics ohnehin etwas abgeht. Aber das ist vermutlich dem in meinem Umfeld offenen Umgang mit den verschiedenen Spielarten menschlicher Existenz geschuldet und sieht gerade in Japan anders aus.

      Insgesamt sieht die Lage nicht gut aus – in Japan wie in Deutschland. FFP2-Masken (KN95) sind zumindest im Großraum Tokyo in den Drogerien schon vor Jahren zur Erkältungs- und Heuschnupfenzeit erhältlich gewesen. Dass die Dinger eine gewisse Auswirkung auf das Infektionsgeschehen haben, haben wir in Deutschland gesehen. Ob sie reichen, um wirklich viel zu bewegen, hängt von der Bereitschaft ab, die Dinger zu nutzen (und zwar korrekt). Alles weitere muss sich dann zeigen.

  3. Hallo,
    das ganze einfach aussitzen wird wohl nicht klappen, es sei denn man hofft darauf das sich irgendwann alle angesteckt haben, aber ob das so optimal ist?
    Wenn man Hamsterkäufe fürchtet kann man dem doch durchaus mit Maßnahmen begegnen, etwa indem man sich mit den Märkten in Verbindung setzt und typische Hamsterkaufproduckte nur in limitierter Stückzahl abgibt, dürfte in Japan sogar besser klappen als hier.
    Auf jeden Fall sollte man ( falls sie noch offen sind ) die Kneipen komplett schliessen und wie hier, eine Homeofficepflich einführen.
    Hauptsache das ist bis nächstes Jahr unter Kontrolle :-)

  4. Oh je, alles genauso wie hier in Indien vor wenigen Monaten. Schon damals hatte ich mich gefragt, warum andere asiatische Länder nicht alles (wirklich alles) hinten anstellen, um die Impfungen durchzudrücken.
    Die angebliche „Spitze“ der zweiten Welle in Indien waren etwa 400.000 Neuinfektionen pro Tag – aber das nur, weil die Testkapazitäten landesweit völlig erschöpft waren. Wir werden nie erfahren, wie viele Menschen tatsächlich infiziert waren, weil die Meisten ungetestet es zu Hause auskurierten.
    Die gleiche, unmittelbare, Folge erkenne ich in Japan: wer will sich schon impfen lassen, wenn es gerade viel zu gefährlich ist, die Wohnung zu verlassen?

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