BlogTōhoku-Pazifik-Erdbeben: Update XIV

Tōhoku-Pazifik-Erdbeben: Update XIV

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Nach ein paar Tagen Pause mal wieder ein Update zur Lage in Japan – um ein bisschen darüber zu berichten, was die Leute hier vor Ort in Tokyo und Umgebung zur Zeit bewegt.
Lage im Norden
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Man ist immernoch dabei, die Schäden zu kartographieren und die Toten zu bergen. Es geht voran, aber der Wiederaufbau wird natürlich sehr, sehr lange dauern. Interessanterweise hat man jedoch festgestellt, dass ein Forscher die Ausmasse des Tsunamis bereits vorhersagen konnte – vor dem Beben. Im Jahr 869 gab es in der Nähe des diesjährigen Epizentrums das 貞観地震 (Jōkan-Erdben), welches eine geschätzte Stärke von über 8 hatte – und Tsunamiwellen kilometerweit ins Land rollen liessen. So etwas lässt sich anhand von Bodenproben prima feststellen. Dies ist insofern interessant, dass man – theoretisch zumindest – vorher bestimmen konnte, welche Gebiete tsunamigefährdet sind: In vielen Ortschaften lebte man schon immer mit der Gefahr, doch die Wucht des Tsunamis hatte dieses Mal selbst gestandene Wissenschaftler überrascht.
Trotz der enormen Zerstörung wollen viele Bewohner nicht weggehen, sondern wieder aufbauen. Das überrascht nicht, denn die ländliche Bevölkerung ist in Japan, wie auch anderswo, sehr sehr bodenständig. Momentan müht man sich (logischerweise) jedoch erstmal hauptsächlich um die Reparatur der Infrastruktur, und da wurden bereits grosse Fortschritte gemacht. 90% der Telefonleitungen sollen wohl wieder funktionieren, und in grösseren Orten gibt es, begrenzt, wieder Strom. Auch viele Trassen sind bereits wieder befahrbar. Der Nordosten ist auch seit dieser Woche keine Sperrzone mehr – wer hinein- oder herauswill, kann das tun. Dadurch ist auch die Arbeit von Freiwilligen möglich geworden.
Lage in Tokyo
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Nur am Montag, und dort auch nur in zwei von 5 Zonen, kam es zu planmässig eingeleiteten, begrenzte Stromausfällen: Die Temperature sind diese Woche auf bis zu 14 Grad gestiegen, und somit heizt kaum noch jemand. Der Strom reicht – aber die Stromsparmassnahmen müssen nachwievor durchgeführt werden, sonst muss wieder rationiert werden.
Die Versorgungslage bessert sich auch etwas. Ich habe heute sogar zum ersten Mal seit gut einer Woche Wasserflaschen im Laden gesehen. Seit ca. einer Woche sinken die Strahlungswerte – in der Luft langsamer, im Wasser schneller. In Tokyo liegt der Wert momentan bei rund 0.1 Mikrosievert/Stunde, in Chiba bei 0.07 (normal sind in Chiba wohl zwischen 0.022 und 0.044). Die Werte für Trinkwasser liegen wohl bei 10 bis 20 Becquerel pro Liter (der Grenzwert für Kinder unter einem Jahr liegt bei 100 Becquerel, für Erwachsene bei 300). Allerdings kam ans Licht, dass das Trinkwasser in einigen Gebieten vor gut über einer Woche teilweise 300 Bq überschritt – dies wurde jedoch erst Tage später veröffentlicht.
AKW Fukushima
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Schaue ich mich so unter unseren Bekannten um, scheint es nur zwei Gruppen zu geben: Absolut Unbekümmerte, die bereits aufatmen und einfach weitermachen wie früher. Und absolut Besorgte, die sich plötzlich in die Materie hereinzulesen versuchen – und, logischerweise, mehr und mehr der Regierung sowie dem AKW-Betreiber sowieso misstrauen.
Dazu hat man gute Gründe. Die Regierung beschwichtigt, wo es nur geht – die Pressekonferenzen sind mitunter schlichtweg absurd. „Wir haben Plutonium im Boden gefunden! Macht aber nichts, ist keine gesundheitsgefährdende Konzentration!“. Schon klar. Ist ja nur Plutonium. Dauert ja auch nur gute 20’000 Jahre, bis die Hälfte weg ist.
Die Internationale Atombehörde sowie Greenpeace haben heute besonders eindringlich an die Regierung appelliert, die Evakuierungszone auszuweiten, da auch ausserhalb der Zone enorm hohe Strahlungswerte festgestellt werden. Die Regierung will davon nichts wissen und behauptet nachwievor, dass die Strahlung noch nicht gesundheitsgefährdend ist (seit Wochen liegt sie nun schon bei bis zu 10 Mikrosievert pro Stunde). Und hat auch gleich eine Erklärung parat: Die anderen messen direkt über dem Gras, wo die Werte am höchsten sind. Die japanische Regierung misst jedoch direkt die Belastung für Menschen.
Mittlerweilen kommen hier mehr und mehr Fragen auf, die irgendwann geklärt werden müssen. Ich werde aber nicht den Fehler machen und schreiben „Die Japaner stellen sich diese Fragen“ – denn wie in den obigen Zeilen bereits erwähnt, stellen sich viele diese Fragen eben nicht. Zu den Fragen gehört folgendes:
– Wer arbeitet dort eigentlich im AKW Fukushima I?
Es mehren sich mehr und mehr Gerüchte und Meldungen, dass dort nicht etwa eine Menge Facharbeiter vor Ort sind, sondern hauptsächlich arme Schlucker, die auf die eine oder andere Weise überredet wurden, dort zu arbeiten. Ich meine damit nicht Zwangsarbeiter, aber Arbeiter, die entweder aus finanziellen Gründen und/oder aus Unwissen über die Gefahr dort arbeiten. Laien also. Das ist nicht unbedingt beruhigend zu wissen. Dort geht es schliesslich nicht darum, eine Grube auszuheben, sondern ein AKW vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren.
Die Arbeitsbedingungen sollen den Nachrichten zufolfe hundsmiserabel sein: Es fehlt an Versorgungsnachschub, die Leute arbeiten bis zum Umfallen und – unter hoher Strahlenbelastung.
Ach ja – ein Leser fragte mich in einer Email besorgt, ob den neulich durch radioaktiv stark verseuchtes Wasser verletzten Arbeitern die Füsse amputiert werden mussten. Antwort: Nein. Die Arbeiter sind wohlauf und bereits aus dem Krankenhaus entlassen. Spätfolgen? Wird sich zeigen.
– Warum gab es im AKW Onagawa (bei Sendai) keine Probleme?
Das AKW in Onagawa steht auch am Meer und war wesentlich näher am Epizentrum dran. Auch Onagawa wurde von einem mächtigen Tsunami getroffen, der ähnlich hoch gewesen sein soll wie in Fukushima (ca. 14 m). Es sah am Anfang auch kurzzeitig so aus, als ob es Probleme geben könnte – gab es letztendlich jedoch (so wird zumindest gesagt) nicht. Diese Frage muss man klären, denn die Antwort könnte das Argument „damit konnte man nicht rechnen“ entkräften. Denn teilweise kam es bereits ans Licht: In Fukushima I wird die Eskalation der Lage letztendlich weniger auf der Naturkatastrophe beruhen als auf menschlichem, und zudem noch grob fahrlässigen Verhaltens seitens der Betreiber.
– Warum hört man so vielen Hilfsangeboten aus dem Ausland – und doch sind sie nicht im Einsatz?
Viele Staaten haben bereits ihre Hilfe angeboten, um das AKW in den Griff zu bekommen. Scheinbar ist jedoch nichts davon durchgeführt worden. Meldungen zufolge hat die japanische Regierung – zumindest anfangs – Hilfe abgelehnt. Dies soll sich jetzt wohl ändern. Endlich. Auch dieses Verhalten der Regierung wird man später gewiss noch unter die Lupe nehmen.
Im AKW scheint man zur Zeit zwei Ziele zu verfolgen:
a) den Zufluss stark verstrahlter Substanzen in das Meer zu stoppen
b) den Reaktor, hauptsächlich Block 2, mit einer Plane aus Kunstharz abdecken, um die Verbreitung radioaktiver Strahlung zu unterbinden.
Zusammenfassung: Die Lage scheint etwas besser als noch vor eins, zwei Wochen. Aber das AKW wird uns noch sehr, sehr lange verfolgen. Und wir werden noch lange besorgt auf den Wetterbericht schauen müssen, um festzustellen, woher der Wind weht und wann es regnet. Hoffentlich fasst sich auch die Regierung irgendwann ein Herz und arbeitet enger mit ausländischen Institutionen zusammen. Dieser falsche Stolz hat das Potential, die Bevölkerung vor Ort in Fukushima in ein langes Unglück zu stürzen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

14 Kommentare

  1. Ich sehe schon die BILD-Schlagzeile vor mir:
    „Eine Gruppe Landstreicher rettet Japan vor dem Super-GAU“

    Und zum Plutonium empfehle ich folgendes video:

    Na wenn Pluto-kun das sagt.

  2. Hallo Tabitito, vielen Dank, dass du uns diese Nachrichten zugänglich machst. Zum Teil sind die Menschen hier in Deutschland ziemlich panisch, weil sie glauben, auch irgendwie direkt betroffen zu sein, wie damals bei Tschernobyl. Mangels Info waren wir damals übrigens mit samt den Kindlein draußen im leichten (radioaktiven! Wild und Pilze strahlen teilweise heute noch!) Regen. Es scheint leider immer und überall das selbe zu sein, Informationen kommen spät oder am besten überhaupt nicht. Oder sind so übertrieben, dass man sich am besten gleich einbuddelt. Ich denke oft an euch und wünsche von ganzem Herzen, dass es wirklich gelingt, dieses AKW einzukasteln, so dass keine Gefahr mehr davon ausgeht.
    Grüße von der anderen Seite der Welt
    die Rabenfrau

  3. Hier zu lesen ist besser als jede Zeitung und jede TV-Sendung.

    Man hat so ein Grummeln in der Magengegend, dass hinter den Fassaden eine Wahrheit lauert. Eine Wahrheit, die einem Zornfalten in die Stirn meiseln würde. Ich hoffe dennoch, dass alles mal ans Licht kommt und die offenen Fragen beantwortet werden.

  4. Interessant finde ich, dass man soweit ich weiß anhand der Isotopenverteilung feststellen könnte ob die Verseuchung im Boden „nur“ vom Abklingbecken, oder aus dem Reaktor kommt, also sprich der Reaktor bereits beschädigt ist. Nach der aktuellen japanischen Informationspolitik müssen wir auf diese Antwort noch ein paar Tage warten.

    Soweit ich mich erinnere hatte es zwei Tage(?), bevor die Radioaktivität in Tokyo im Trinkwasser anstieg, zwischen Fukushima und Tokyo geregnet, sprich das radioaktive Material ist dort aus der Luft in den Boden gelangt. Wenn Teile des Trinkwassers (wie ich nur vermuten kann) wirklich aus dieser Region gekommen sind, wie hoch müssen dort die Strahlenwerte gewesen sein?

    In Deutschland wurde in den Medien häufig über verschiedene Proteste von Japanern gegen die Atomkraft berichtet. Scheinbar immer weniger als 1000 Leute. Einer hat sich darüber beschwert, dass darüber nicht berichtet wird und deshalb die Demonstrationen nicht größer sind. Gibt es Berichte oder wenigstens Randnotizen darüber in den jap. Medien?

  5. >Die Regierung beschwichtigt, wo es nur geht – die Pressekonferenzen sind mitunter schlichtweg absurd. „Wir haben Plutonium im Boden gefunden! Macht aber nichts, ist keine gesundheitsgefährdende Konzentration!“.< Unfassbar fand ich die (Minister-oder Tepco-Mann?)-Aussage zu den hohen Werten im Meer: „Ist ja nicht so schlimm, niemand trinkt ja Meerwasser.“
    Wie es mit dem Fischfang weitergeht wird noch sehr spannend. Schließlich wurden die radioaktiven Wolken auf den Pazifik geweht. Darüber „jubelte“ man regelrecht, weil Tokyo damit halbwegs verschont blieb. Aber es ging sehr weit aufs Meer raus, auch in internationale Gewässer. Wer misst und kontrolliert dort? Ich denke mir Fischtrawler die skrupellos genug sind auch in fremden oder geschützten Gewässern zu räubern, scheren sich einen Dreck darum oder sie verseuchten Fisch fangen. Und so wird das Problem dann doch weltweit relevant.

  6. Ein sehr sehr interessanter Bericht von Dir, danke. Vor allen bedanke ich mich für Deine unvoreingenommenen, klaren aber auch mit einer Ruhe ausstrahlende Post`s.
    Ich hoffe, dass die Japanische Regierung endlich mit Wahrheit und Offenheit mit der Katastrophe umgeht. Die Menschen in Japan haben ein Recht darauf.
    Danke sagt Daniela.

  7. @Rabenfrau,

    als Tschernobyl war lebte ich in der Schweiz! Diese Land wurde von jedweder Panik ausgesperrt – wie die Franzosen auch. Keine Wolke kein gar nichts, als ich dann für ein WE in Köln bei meinen Eltern war und zufällig in den Supermarkt kam, wo es nichts Frisches mehr zu kaufen gab, war ich schon sehr irritiert ;)

    Ein Freund sagte damals, geh eine Woche in dir Berge, Chamonix sei am besten, da könnte ich mir Strahlung ganz umsonst abholen!

    Einiges später habe ich dann über 10 Jahre in Frankreich, besser gesagt Paris gelebt. Wie die Franzosen ticken brauch ich ja nicht zu sagen, die warten doch schon seit Jahren darauf und den „billigen“ Atomstrom teuer verkaufen zu können ;) Ja, so ist es leider.

    Ich weiß manchmal auch nicht mehr, wem noch glauben! Zumal als Mutter von 3 gesunden jugendlichen Kindern ich dann schon das ein oder andere Mal ins grübeln komme….

    ach ja, auf jeden Fall sende ich Euch eine große Briese Hoffnung und drücke allen in Japan ganz feste die Daumen, dass nichts schlimmer wird als es auch nüchtern betrachtet schon ist!

    LG
    Phelia

    Und nein, ich meine es ernst mit dem hier geschriebenen, KEIN Aprilscherz, dafür ist das Thema einfach VIEL zu ernst!

  8. ich kann da mal folgende seite zum nachlesen empfehlen: http://www.spiegelfechter.com/wordpress/5485/das-hilft-bei-strahlung

    es ist zwar ne drastische auflistung, aber da ihr ja nun in der radioaktiven schusslinie seid, muss man sich eben überlegen, was man noch kauft und was man besser nicht mehr isst bzw. zumindest nicht, wenn es im betroffenen gebiet hergestellt wurde.

    ansonsten auch von mir ein gruss an euch und lasst euch nicht verunsichern… es könnte wirklich schlimmer sein, aber die infopolitik ist in japan leider zu wenig und hier zu paniklastig.
    bis dann, matthias

  9. Da stimmt etwas tatsächlich nicht mit dem „Arbeiten“ am AKW. In Tschernobyl waren die Entscheidungsträger für Tage gelähmt, liessen danach aber in Wochen Arbeit von Monate ausführen. Rund eine Million Menschen waren beteiligt. Eine halbe Million nur für die halbe Minute Zeit, um 2 Schaufeln strahlenden Müll vom Dach zu werfen, und dabei mehrere Jahresdosen an Strahlung einzusammeln.

    Eben um die Perspektive zu gewinnen, dass jetzt in Japan etwas nicht stimmt, hier ist ein guter Dokumentarfilm:
    Tschernobyl, Alles über die größte Atomkatastrophe der Welt

    Das selbe auf Englisch:
    2006 The Battle of Chernobyl

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