BlogKommt der Lockdown? Oder Nicht? Ganz Japan rätselt

Kommt der Lockdown? Oder Nicht? Ganz Japan rätselt

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Etliche Wochen lang sah es so aus, als ob Japan in Sachen Corona dem Schicksal vieler anderer Länder entgehen kann – ein wichtiger Indikator – die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag – blieb auf relativ konstantem Niveau und sank zeitweilig sogar. Seit Ende der vergangenen Woche sieht die Angelegenheit jedoch weniger rosig aus. Von wenigen Dutzend Neuerkrankungen pro Tag wurden es plötzlich weit über Hundert. Allein in Tokyo wurden am Wochenende pro Tag mehr als 60 neue, bestätigte Fälle registriert. Die meisten davon können bekannten Clustern zugeordnet werden, doch bei mehr als zehn Fällen pro Tag hat man keinerlei Ahnung über den möglichen Ansteckungsweg.
Das Englische Wort „overshoot“ gehört seit Wochen zum festen Vokabular der Nachrichtensender, denn genau davor hat man große Sorge: Der Moment, in dem die Fallzahlen explosionsartig steigen und die Neuinfektionen ausser Kontrolle geraten. Aus eben dieser Sorge bat die Governeurin von Tokyo, und nach Absprache auch die Kollegen der benachbarten Präfekturen, die Bevölkerung, am Wochenende nur dann rauszugehen, wenn es absolut notwendig sei – sprich wenn man zum Arzt oder zum Lebensmitteleinkauf muss. Am Sonntag fiel das vielen sicherlich nicht schwer – zum ersten Mal seit 51 Jahren gab es inmittem der Kirschblütensaison starke Schneefälle.
Heute nun gab es eine Pressekonferenz der Governeurin von Tokyo, Koike, die dort die Ergebnisse ihres Treffens Wissenschaftlern bekanntgab. Die harmlose Botschaft: Sie ruft die Hauptstädter dazu auf, vorerst auf Besuche von Clubs und Bars zu verzichten. Mehreren (Gerüchte)quellen zufolge soll es morgen eine Ansprache des Ministerpräsidenten Abe geben, und dabei soll es wichtige Neuigkeiten geben. So erwarten zum Beispiel viele Japaner ein „lockdown“ von Tokyo, aber eventuell auch von Osaka – ab dem 1. April. Rechtswissenschaftler bezweifeln allerdings, dass die Regierung die rechtlichen Mittel besitzt, ähnlich strenge Maßnahmen wie zum Beispiel die Regierung in Italien oder in England zu beschliessen. Und außerdem: Die Regierung hat dieses Gerücht bereits sehr deutlich dementiert und davor gewarnt, Gerüchte dieser Art zu verbreiten. Allerdings denkt man bei dieser Geschichte zwangsläufig an Schroedingers Katze: Allein durch Gerüchte könnten sich die Maßnahmen der Regierung ändern.
Koike warnte in den vergangenen Tagen mehrmals und in immer stärkeren Worten. Die Hauptstädter sollen vor allem die drei „密“ (geschlossen, heimlich, aber auch „nah“) vermeiden: 1) Geschlossene Räume mit schlechter Belüftung, 2) Orte, an denen sich viele Menschen aufhalten, und 3) Nähe zu Menschen, wenn man spricht. Das Problem, wie vorab erwähnt: Noch läuft alles auf 自粛 jishuku hinaus, „Selbstbeschränkung“ – also auf Freiwilligenbasis. Und da gibt es noch immer genug Menschen, die die Empfehlungen in den Wind schlagen – das sehe ich tagtäglich am Bahnhof Shibuya, aber auch in den Kneipen und Restaurants in Ebisu.
Bei einem potentiellen Lockdown hat man in Japan noch eine größere Auswahl an Instrumenten. Man darf erwarten, dass früher oder später Bars und Restaurants dichtgemacht werden – zumindest am Abend, eventuell auch andere Geschäfte, so sie keine Arznei oder Lebensmittel verkaufen. Die spannende Frage ist allerdings, ob man zum Beispiel auch alle Firmen, so nicht systemrelevant, dichtmacht, und wenn ja, ob das für das ganze Land gilt oder nicht.
Das Gerücht über den Einsatz strengerer Maßnahmen ab dem 1. April klingt erstmal einleuchtend: Am 31. März geht für die meisten japanischen Firmen das Fiskaljahr zu Ende – eine Komplettschließung der Unternehmen am oder kurz vor diesem Termin würde viele Firmen in komplettes Chaos stürzen.
Der Bericht einer wöchentlichen Nachrichtensendung am Sonntag machte mir besonders große Sorgen: Dort erklärten Experten, dass Japan nur gute 8‘000 Beatmungsgeräte habe – und dass die Erfahrung in anderen Ländern zeigt, dass das bei weitem nicht ausreicht. Sollte diese Meldung wahr und auf dem aktuellsten Stand sein, muss man sich ernsthaft fragen, was man in Japan in den vergangenen Wochen in Sachen Vorbereitung gemacht hat. Der gesunde Menschenverstand würde nämlich erwarten, dass alles getan wird, um Patienten mit komplizierterem Verlauf helfen zu können. Kann man das nicht, würde das das Todesurteil vor allem für viele ältere Japaner bedeuten, und bekanntermaßen gibt es in Japan aufgrund der denographischen Struktur besonders viel davon. Japan hatte genügend Zeit bisher, den Verlauf von Corona in anderen Ländern zu studieren – und aich dementsprechend vorzubereiten. Sollte man diese Zeit wirklich vergeudet haben?
Den Corona-Vogel des Monats hat übrigens Ministerpräsident Abes werte Gemahlin abgeschossen – sie spielt ja bereits im noch immer aktuellen Moritomo-Bestechungsskandal eine schillernde Rolle. In sozialen Netzwerken kursieren Fotos von ihr und ihrer Entourage bei der Kirschblütenschau – eng aneinandergedrängt, und ohne Masken. Genau das, wovor die Regierung zur Zeit das gemeine Volk warnt.
Und noch am Rande: Das Virus forderte heute in Japan das erste prominente Todesopfer: Der 70-jährige 志村けん Ken Shimura, Schauspieler, Komiker und Sänger, erlag heute der Krankheit. Da ihn so ziemlich jeder kennt, ist sein Tod möglicherweise das tragische Signal, das ein paar mehr Leute wachrüttelt

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

4 Kommentare

  1. Zur Verteidigung seiner Frau soll Abe gemeint haben, dass der Kirschbütenhintergrund sich im Garten eines Restaurants befunden haben soll. Eigentlich noch peinlicher. Ich höre immer wieder Stimmen von Japanern, die den unklaren Führungsstil Abes stark kritisieren. Seine Frau unterstützt ihn sogar noch im negativen Sinn. Sie wird vielsagend nicht mehr First Lady, sondern Worst Lady genannt.

  2. Der Tod von Shimura Ken hat mich echt betrübt. Dem Mann habe ich meinen Zugang zum japanischen Humor zu verdanken. Viele Abende haben meine Frau und ich mit den alten Drifter Folgen verbracht und viel dabei gelacht.
    Das Japan bisher einen milden Verlauf hatte, kann sich nun leider rächen. Mir scheint nämlich es hat die Regierung in der falschen Hoffnung gelassen, man käme um das Gröbste herum und müsse sich nicht anständig vorbereiten. Hier muss man der Heimat doch ein Lob aussprechen, an Beatmungsgeräten hat man gedacht, es gibt reichlich davon. Ob sie schlussendlich ausreichen, wir man sehen.
    In Berlin will man nun ein grosses Spital hochziehen. Ob man dies in der beabsichtigten Zeit auch wirklich schafft, wird sich zeigen. Als ehemaliger Berliner habe ich, mit Blick auf den Flughafen, da meine leisen Zweifel. Wo man das nötige Personal herbekommen will, steht auf einem anderem Blatt.

  3. Hier in Deutschland hat es gestern und heute auch an vielen Orten geschneit.
    Und je nach Bundesland gibt es richtige Ausgangssperren. Gearbeitet wird trotzdem noch oft, wo es nicht wirklich nötig wäre (Straßensanierung einer Gasse, durch die nur Anwohner kommen bei mir hintern Haus z.B. Beim Home Office etwas nervig, das tuckern der Maschinen).

  4. Ich gebe zu, ich schaue noch immer etwas verwundert nach Japan. Einerseits weil die Fallzahlen so unglaublich langsam steigen und zweitens, weil ich nicht fassen kann wie man so eine gute Ausgangslage so verspielen kann.
    Ein Blick nach China und Süd Korea, ein Blick nach Europa zeigt doch, wie viele Menschen jetzt leiden weil man es nicht in den Griff bekommt. Wie Ärzte an der Triage verzweifeln, wie Material ausgeht, wie unglaublich viele Menschen sterben und viele ihre ökonomische Sicherheit verlieren.
    Warum sollte der Virus überall, außer in Japan, so einen Schaden anrichten können? Mit den geringen Infektionszahlen hätte man frühzeitig viel Leid verhindern können. Wohl wissend, dass – wie ein mittlerweile sehr bekannter Virologe Drosten so gerne betont – „there is no glory in prevention“. Ja, fährt man drastische Maßnahmen und rettet viele Menschenleben und verhindert eventuell auch den ökonomischen Kollaps und dann sterben wenige Menschen, es entsteht keine Krise, sagen alle: und dafür haben wir uns jetzt so eingeschränkt?!
    Aber will man es wirklich drauf ankommen lassen? Wenn man nach Italien und Spanien sieht kann man das doch nur verneinen.

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