BlogEin Tag im Müll

Ein Tag im Müll

-

Was macht man an einem (mal wieder) hoffnungslos verregnetem, freien Tag? Genau, man geht mit seinen Kindern zur örtlichen Müllanlage. Auf Wunsch der Kinder wohlgemerkt, denn als die Schulklasse dort zur Exkursion war, war Töchterchen lustig befleckt krank zu Hause.
Das örtliche ゴミ処理センター Müllzentrum besteht aus einer Mülltrennungsanlage nebst Müllverbrennungsanlage… und einem angeschlossenen, grösseren Schwimmbad mit dem eher italienisch anmutenden Namen Yonetti. Dieses seltsame Wort stammt vom japanischen Wort 余熱 yonetsu Restwärme ab und erklärt damit gleich, was mit der Abwärme der Müllverbrennungsanlage geschieht. Eine vernünftige Idee.

Müllrampe
Müllrampe

An einem verregneten Feiertag rufen wir also im Müllzentrum an und fragen, ob man sich die Anlage ansehen könne. Ja, hiess es – aber nur die Wiederaufbereitungsanlage. Für die Verbrennungsanlage muss man einen Tag im voraus reservieren. Wir spazieren also hin und betreten den blitzblanken Eingangsbereich im vierten Stock – der liegt auf Strassenhöhe, denn das Müllzentrum liegt am Hang eines kleinen Tals. In der dritten Etage befindet sich eine riesige Ausstellungsfläche und eine offensichtlich gelangweilte Empfangsdame, denn wir sind die einzigen Gäste. In der Ausstellung können sich die Kinder austoben: Sie können an Kurbeln drehen und dann erkennen, wieviel Strom sie gerade produzieren und welche Haushaltsgeräte man damit betreiben kann (die Kurbel war so klein – ich kam nur bis zum Fön; bis zur Mikrowelle reichte es nicht), mit dort angeschlossenen iPhones kann man über eine grosse Karte der Stadt fahren und sieht hier und ort animierte 3D-Abbildungen dessen, was da so kreucht und fleucht usw. Schliesslich kam noch eine Angestellte und führte uns 45 Minuten lang durch den Bau, zeigte uns die Müllrampe, den Kontrollbereich, den Sortierbereich usw. und beantwortete dazu alle Fragen der Kinder mit viel Geduld. Ein richtiges Erlebnis, quasi. Besagte Anlage ist übrigens für 450 Tonnen Müll pro Tag ausgelegt und produziert 7,500 kWh Strom.
Der Kontrollraum
Der Kontrollraum

In Kawasaki wurde 1990 der Müllnotstand ausgerufen. Die gute Millionen Bewohner produzierten einfach zu viel Müll, und man musste etwas machen. Die Einwohnerzahl wuchs nämlich ständig weiter, doch Deponien und Müllverbrennungsanlagen waren bereits am Limit. Interessanterweise setzte man jedoch nicht da an, wo man es zunächst vermuten würde – bei der Müllvermeidung. Man kennt eben seine Pappenheimer und weiss, dass der Verzicht auf all die kunstvollen Verpackungen nicht leicht in Japan durchzusetzen ist. Stattdessen setzte man alles auf Mülltrennung und somit der Wiederverwertung. Doch auch dort gibt es verschiedene Ansätze: Während in Deutschland das Pfandsystem bevorzugt wird (vor allem Ostdeutsche sind ja damit gross geworden), gibt es im Japan gar kein Pfandsystem. Stattdessen wird nach Leibeskräften getrennt – nach PET- und Plaste, verschiedenfarbigem Glas, Batterien, Papier, sonstigem brennbaren und nichtbrennbarem Müll. Nein, auch Biotonnen haben sich nicht durchgesetzt, und sie wären in dicht besiedelten Gebieten wie Tokyo auch keine gute Idee.
Yonetti-Schwimmbad, betrieben mit der Abwärme der benachbarten MVA
Yonetti-Schwimmbad, betrieben mit der Abwärme der benachbarten MVA

Bei der Müllverwertung gibt es in Japan noch sehr viel Potential – siehe zum Beispiel Müllvermeidung. Aber die bisherigen Maßnahmen greifen natürlich auch. Vor allem die Aufklärung begeistert mich zumindest: Die Idee, die Müllzentren zu einer Mischung aus Museum und Erlebnispark zu machen und mit der Schule Exkursionen dorthin zu gestalten ist prima. Als wir durch die Ausstellung gingen, kamen übrigens noch drei Besucher – Klassenkameraden meiner Tochter, die beschlossen hatten, sich dasganze noch mal in Ruhe anzusehen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

5 Kommentare

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Soziale Medien

0FollowerFolgen
0FollowerFolgen
0AbonnentenAbonnieren

Neueste Beiträge

Heimlich, still und leise… stumme Aushöhlung der Privatsphäre?

Es war schon ein dreistes Stück: Vor ein paar Tagen spazierte ein Mann in eine Goldausstellung des Edelkaufhauses Takashimaya...

Politiker der Woche | Akebono verstirbt in Tokyo

Der -- hier unregelmäßig -- vergebene Preis des Politikers der Woche geht an den Präfekturgouverneur von Shizuoka, der Präfektur...

TV-Tipp: Potsunto Ikken’ya

Ein Leser schrieb mich neulich an und bemerkte, dass es schön wäre, mal den einen oder anderen Fernsehtipp auf...

Puberulasäure und ein paar mysteriöse Todesfälle

Nahrungsergänzungsmittel, auf japanisch gern kurz サプリsapuri (Verballhornung des englischen Begriffs suppliments) genannt, sind ein großes Ding in Japan --...

Und wieder 5 Jahre warten — Verkehrssünden in Japan

Es war an einem hektischen Tag im November 2019 -- mit dem Auto fuhr ich die Route, die ich...

Mehr als 700 Grad und noch immer keine Kirschblüten

Das mit den Kirschblüten ist schon eine interessante Wissenschaft: Alljährlich veröffentlichen Wetterdienste Karten und Vorhersagen der "Kirschblütenfront", anhand derer...

Must read

Die 10 beliebtesten Reiseziele in Japan

Im Mai 2017 erfolgte auf dem Japan-Blog dieser Webseite...

Auch lesenswertRELATED
Recommended to you

%d