BlogDer Vorleser

Der Vorleser

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Kamishibai hajimaru yo! – wie der Rattenfänger aus Hameln streicht der alte Mann zwischen all den Kindern auf einem grossen Spielplatz im Tokyoter Bezirk Edogawa-ku umher, gebückt, und mit sonorer Stimme in ein uraltes Megaphon sprechend. Ich wage zu bezweifeln, dass die Batterien, so überhaupt vorhanden, frisch sind. Sein Gebiss sitzt sehr locker, weshalb er schwer zu verstehen ist. Was macht der Greis hier? Verkündet er das Ende der Welt? Immer wieder dreht er seine Runde, und schlägt zwei alte Holzstücke zusammen, immer wieder gebetsmühlenartig den einen Satz verkündend. Und wie sein Kollege aus Hameln nimmt er dann tatsächlich die Kinder mit, und verfrachtet sie, bis zu 10 von ihnen, in den mit Pappe ausgeschlagenen Kofferraum seines Kleinwagens.
Erst beim zweiten Mal verstand ich endlich, was er da verkündet. 紙芝居、始まるよ! (kamishibai, hajimaru yo) – das „Papiertheater“ fängt an! Die Kinder kriechen in seinen Wagen, unter den skeptischen Augen der Eltern. Zwar ist die folgende, keine fünf Minuten dauernde Vorstellung, kostenlos, doch der Mann sammelt trotzdem „auf freiwilliger Basis“ 100 Yen von den Eltern ein – und lässt die Kinder dafür aus zahlreichen Süssigkeiten, Getränken und manchmal auch Eis auswählen. Dann baut er eine uralte Holzkiste auf einem uralten Schemel auf. Nach vorn hat die Holzkiste ein Glasfenster. An der Seite ist die Kiste offen. Das muss so sein, denn nur so kann der Erzähler die alten, abgegriffenen, schwarzweissen Bilder herausziehen, während er – ebenfalls mit sonorer Stimme – eine Geschichte vorliest.
 

 
Sie sind selten geworden, die Geschichtenerzähler. Diese japanische Besonderheit begann Anfang des 20. Jahrhunderts und war vor allem in Tokyo sehr populär. Der Zweck war nicht nur pure Kinderliebe: Auf diese Weise wurden gerne Süssigkeiten „vertickt“. Daraus wuchs eine ganze Industrie. Laut Wikipedia gab es nach dem Krieg gute zehntausend Erzähler, die schliesslich erst nach der Verbreitung des Fernsehens verdrängt wurden. Der alte Mann im Park von Edogawa-ku muss auch gut und gerne 90 Jahre auf dem gekrümmten Buckel haben. Ich bedankte mich bei ihm nach der Vorstellung und fragte ihn, wie lange er das schon mache. „Weit mehr als 50 Jahre lang“ war seine Antwort. Die Kinder hören kaum zu, da man ihn kaum versteht. Aber sie verstehen, dass dies etwas Besonderes, Anderes ist. Und laben sich an den Süssigkeiten. Welche Eltern können da schon sagen „Nein, das isst Du jetzt nicht!“.
Zur Veranschaulichung noch ein Video – ohne Höhepunkte, wohlgemerkt. Aber wer weiss, wie lange es sie noch gibt – die Geschichtenvorleser.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

14 Kommentare

  1. Süßes Töchterchen hast du :)

    Ich war begeistert von diesem Beitrag.
    Ab jetzt heißt es, Augen nicht nur nach Tofu-Verkäufern aufhalten, sondern auch nach einem Papiertheater.
    Ich hoffe, soetwas gibt es auch noch irgendwo in der Umgebung von Yokohama..

  2. Sehr schöner Beitrag! Nicht immer der gleiche urbane, menschenfressende Moloch ohne Grün der einem als „Tokyo“ aufgetischt wird. Süss wie die Kinder alle Ramune trinken, das ist ja echt noch wie früher.
    Toll find ich dass er für die 2 Quadratmeter Fläche Mikro und Lautsprecher einsetzt. Das nenn ich analog TV. Die zwei Geschichten sind ganz unterhaltend find ich, besonders ganz am Schluss als auf einmal fertig ist.
    Die Tofu Verkäufer die von Haus zu Haus ziehen sind leider auch sehr sehr selten geworden. Schön wenn man zufällig auf solche Kleinode trifft und einen Schwatz abhalten kann.

  3. Ich hab ja auch was für die Wahrung von Traditionen übrig, auch wenn sie manchmal noch gar nicht so alt sind. Es ist auf jeden Fall eine nicht alltägliche Abwechslung für die Kinder. Und bei den Kleinen kommen solche Erzähler immer gut an.

  4. @ディーン
    Also ich kann nicht klagen: Bei mir ziehen die Hot-Dog-Verkäufer, Tofu-Verticker, Süsskartoffeldealer, Altmetall-Zuhälter usw. alltäglich ihre Runden… teilweise jahreszeitabhängig, aber richtig ruhig wird es hier nie…

  5. Sehr schöne Geschichte. In Berlin gibt es in Der U-Bahn Automaten, an denen man sich DIN-A4 Blätter mit einem Märchen ziehen kann. Nicht ganz so schön, aber auch nett.

  6. @tabibito
    Das ist jetzt aber nicht wahr? Das kann man in eurer umetate-Gegend ja gar nicht mehr authentisch nennen. Ich erwisch die höchstens mit viel viel Glück. Den Süsskartoffel Onkel gibt’s nur im Winter, jetzt hält er wohl Sommerschlaf. Und die wöchentlich mehrmals auftretenden Heavymetaller zählen nicht, die sind eine regelrechte Landplage mit ihren plärrenden Ansagen durch die aufmontierten Lautsprecher. Fehlen nur noch ein paar winkende Damen mit Handschuhen und sie müssten die nächsten Wahlen gewinnen.

  7. Ich finde es so super das der alte Mann so glücklich ist während er seine Geschichten erzählt :D
    Und wer weiß wie oft er diese gleiche Geschichte schon erzählt hat ^^

    Ich war vor einem Jahr in der Türkei Urlaub machen, und dort gibt es noch an bestimmten stellen Sesamring, Muscheln, so einen roten Kraut saft oder süßigkeiten verkäufer.

    Aber Geschichtenerzähler find ich echt toll :)

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