BlogAntiatomkraftbewegung in Japan - Demonstration auf Japanisch

Antiatomkraftbewegung in Japan – Demonstration auf Japanisch

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Am 21. März 2011 – die Lage in Fukushima wurde im sprichwörtlichen Sinne immer explosiver, habe ich folgenden Gedanken in diesem Artikel niedergeschrieben:

Wer denkt, dass sich in Japan jetzt Antiatomkraftgegner finden und sammeln werden, dem sei hier schon vorweg gesagt: Nein. So tickt das Land nicht.

Und doch wurde seitdem vor allem in deutschen Medien von Antikernkraftgegnern in Japan berichtet und Bilder von Demonstrationen selbiger gezeigt. Nun – heute wurde ich zufällig selber Zeuge einer solchen Demonstration, und zwar in meinem Wohnort. Meine Stadt hat über 160,000 Einwohner, und ich lebe hier seit nunmehr 7 Jahren. Eigentlich bin ich recht gut informiert über das, was in dieser Stadt passiert – doch von einer politisch motivierten Demonstration habe ich bis heute noch nie etwas gehört geschweige denn gesehen.
Und so sah die Demonstration aus:

Teilgenommen haben ca. 30 Leute und mindestens genauso viele Polizisten begleiteten die Aktion (falls sich jemand wundert, warum mir die Leute im Video zuwinken – sie winken nicht mir zu, sondern meiner Tochter, die hinter mir auf dem Fahrrad saß). Aber der mitgereiste MC sorgte für genug Lärm. Er war ziemlich gut, tat mir aber etwas leid, da keiner so richtig Stimmung machen wollte. An dieser Stelle hätte ich einiges dafür gegeben, zu erfahren, wie viele der Teilnehmer wirklich aus meiner Stadt kommen. Aber es spielt eigentlich keine grosse Rolle.
Zumindest der MC stammt sicherlich von der Shōnan-Fraktion. Das ist kein offizieller Begriff, sondern eine Bezeichnung, die sich irgendwann in meinem Kopf gebildet hat. Shōnan ist die Gegend westlich von Kamakura und geprägt von langen Stränden, sehr vielen Strandhütten nach amerikanischem Vorbild, Surfern – coolen Leute (nicht abwertend gemeint), die hier im eingeengten Japan versuchen, ihren eigenen Lebensstil zu finden und zu leben. Dazu gehört natürlich auch die passende Musik. Und wie es scheint seit kurzem auch eine politische Meinung.
Wovon wurde ich da am Strassenrand Zeuge? Vom Beginn einer neuen Art des Bürgerbewusstseins in Japan? Vom Beginn einer Graswurzelbewegung mit breiter werdendem Konsens in der Gesellschaft, die es bald schafft, die Kernenergie aus Japan zu verdrängen (gute Argumente gibt es ja nun mehr als je zuvor)? Wird man sich auch bald mit der Polizei prügeln, wenn irgendwo ein neuer Bahnhof gebaut wird?
Ich mag es noch immer nicht glauben. Protest gegen die Kernkraft gibt es im steigenden Masse, aber der findet eher woanders statt (zum Beispiel in Rathäusern). Demonstrationen dieser Art mögen zunehmen, aber sie passen nachwievor nicht in das japanische Schema. Aber das sich eine Organisation bis in unsere Stadt verirrt und sich dort die Mühe macht, eine Demonstration anzumelden und genehmigt zu bekommen, ist schon bemerkenswert. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich mich mit der obigen Prophezeiung geirrt habe. Aber ich werde mich hüten, japanischen Freunden und Bekannten hier etwas aufzuschwatzen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

11 Kommentare

  1. Shōnan-Fraktion herrlich gewaehlte! Ich finds gut! Ob 2000 oder 30 Leute zeigen das man dagegen ist, ist besser als zuhause am Fernseher bewegte Bilder zu verfolgen. Ob es wohl noch eines AKW Unfalles bedarf, bis auch der letzte Japaner auf der Strasse ist? Wie waere es mit dem hier http://english.tasukeaijapan.jp/?p=1118 das war am 3.11 schon eine richtig knappe Sache und das nur 130km von Tokyo entfernt. Ich hoffe sehr das irgend wann der Funke ueberspringt und die Breite Masse aktiv wird.

  2. Haha, Shōnan-Fraktion! X-D
    Erinnere mich dass es damals beim Irakkrieg schon so war, nie mehr als ein Häufchen Leute auf der Strasse die gegen die passive Beteiligung Japans demonstrierten (oder sollte ich eher sagen „Plakatwerbung“ machten?). Und wenn man sich Archivbilder ansieht war das, mit Ausnahme der Studentenunruhen der 60er, nie viel anders. Auch wenn man sich als Westler, aufwieglerisch imprägniert seit der Französischen Revolution, noch so sehr den grossen Umsturz und das „Erwachen der Masse“ erhofft, ich glaube auch nicht dass westl. Geschichtsprägung sich hier so einfach applizieren lässt. Selbst wenn’s einmal zu grossen Unruhen käme, zu einer „Demokultur“ würde das denk ich trotzdem nicht führen. Na mal sehen, wer weiss was die Zukunft bringt.
    Fast schon niedlich war das von einem Ausländer angeführte Trüppchen der weltweiten Occupy Bewegung letztes Jahr. Ich konnte mich einfach nicht vom Eindruck lösen, dass einige im Trüppchen ihrem ausländischen Kollegen einfach einen Gefallen tun wollten und deshalb mitzogen.

  3. Stimme dir da absolut zu. Demos passen nicht nach Japan. Dafuer gibt es eine Reihe Erklaerungen, aber ich denke mal, dass der Mindset von vielen Japanern wenn sie so eine Demo sehen in etwa so aussieht „Sie haben zwar Recht, aber diese komischen Chaoten, mit denen will ich nichts zu tun haben!“. Und wenn alle so denken, dann gibt es auch keine Demobewegung.
    Gestern gab’s auch ein Editorial bei der Japan Times (nicht besonders gut, aber w/e)
    http://www.japantimes.co.jp/text/ed20120318a1.html

  4. Es gibt so vieles zwischen Himmel und Erde, wo wir sagen, oh das paßt nicht hierher. Aber die Zeiten ändern sich, auch bei uns. Warum nicht auch bei euch?????????? Ob eure Kinder noch so denken und handeln wie ihr, auch wenn ihr ihnen vieles mitgebt?
    Ich wünsche Dir und Deiner Familie einen schönen Frühling
    herzlichst
    margit

  5. Am besten haben mir die nachtrabenden Polizisten gefallen, die den Demonstrationszug unfreiwillig auf das Doppelte verlängert haben ;-)
    Wie du schon schreibst, waren japanische Demo-Bilder eine Zeit lang im deutschen TV recht beliebte Motive und da wurden auch deutlich größere Gruppen gezeigt, doch in sehr ähnlichem Schema: ambintionierter Stimmungsmacher vorneweg, deplaziert wirkende Menge hinterher, noch deplazierter wirkender, überdimensionaler Polizeitross macht erst eine Masse daraus.
    Als Ostbirne habe ich da natürlich noch ganz andere Demos im Gedächtnis und auch die Erkenntnis, dass es durchaus etwas bewirken kann. Es wäre natürlich positiv, wenn sich in Japan ein richtiges Movement von allein herausbildet, aber warum sollte man den Menschen nicht von die Erfahrungn aus der „Heimat“ als Motivation mit auf den Weg geben?
    Das Umdenken scheint doch, wenn auch in anderer Form, so langsam in Fahrt zu kommen. Neulich sah ich eine sehr gute Doku „Die Fukushima-Lüge“ (auf Phoenix) mit einem sehr aufschlussreichen Interview mit Naoto Kan und Ex-Tepco-Mitarbeitern. Ich vermute, das wurde in Japan nicht ausgestrahlt?

  6. Korrigiert mich bitte, wenn ich da einen falschen Eindruck habe. Ich hatte bisher eher den Eindruck, dass die engangierten Bürger (bie welchem Thema auch immer) eher ihren lokalen Regierungsvertretern auf den Keks, denn auf eine Demo zu gehen. Aber ich mich da täuschen.

  7. @tembridis
    Erlebe ich genau so. Bei den Treffen mit Regierungsvertretern nehmen die erzürnten Bürger kein Blatt vor den Mund. Der wutentbrannte Bürger, den man im Westen gerne Plakate tragend auf der Strasse sieht, findet sich im Rathaus ein wo die Anliegen direkt bei den Verantwortlichen zu Gehör kommen. Angesichts der jeweiligen Stimmung vor Ort ist es wohl der wenig gewalttoleranten Gesellschaft zu verdanken, dass die Vertreter keinen Polizeischutz brauchen.
    Es ist ja keineswegs so dass sich in Japan die Zeiten nicht ändern oder dass die jüngere Generation gleich denkt wie die ältere, ganz im Gegenteil. Nur ändern sich die Dinge eben nicht auf die Art und Weise wie wir es im Westen kennen oder vielleicht gerne sehen würden.

  8. @tembridis & ディーン
    Yep. Ich habe mich bei einer „Praesentation“ von Tepco in meinem Kuyakusho einfach mal dazugesetzt und war sehr erstaunt wie viele wirklich boese Worte von Seiten der Bevoelkerung auf die „Spezialisten“ von Tepco einwirkten. Die Lage spitzte sich derart zu, das der „Hauptredner“ von Tepco zugeben musste, das er zu dem Thema keine eigene Meinung haben darf und deshalb so viele Fragen nicht beantworten kann. Das war dann zuviel des Guten fuer so manchen Buerger und das Sprecherpult wurde gestuermt. Die Tepcotruppe hat sich dann unter wuesten Beschimpfungen durch den Hintereingang aus dem Staub gemacht. Das zurueckgelassene Infomaterial und diverse Notebooks wurden ihnen aus dem Fenster (3. Stock!) hinterhergeworfen. Es waren ca. 150-200 Leute anwesend, von denen ca. 50 das Rednerpult gestuermt haben. Beeindruckend!

  9. Sehr ordentlich, wie die staatlichen Ordnungskräfte der bunten Truppe hinterherstiefelt. Was hat eigentlich der hübsche Pionierwimpel, welcher der erste im Polizeiblock vorwegträgt, für eine Bedeutung? Ist das üblich?

  10. @coolio
    Kann ich mir lebhaft vorstellen. Ist ja nicht so, dass Japaner ihre Beamten immer mit Samthandschuhen anfassen. Finde den Ton in Japan da mitunter rauher als in Deutschland – erst recht in der Privatwirtschaft.
    @Terry
    Hmm, sieht aus wie der Wimpel einer Reisegruppe :) Nicht, dass einer der Kollegen da plötzlich falsch abbiegt und plötzlich den Verkehr regelt. Im Ernst – keine Ahnung. Das Symbol sagt mir auf den ersten Blick auch nichts.

  11. @coolio
    Sehr schöne Anekdote, wär ich gern dabei gewesen. Besonders die fliegenden Notebooks hätt ich sehen wollen, gibt wohl kein Video dazu?
    Ähnliche Ereignisse hat man oft am TV mitbekommen oder davon gehört, fanden aber nie Eingang in ausländische Berichterstattung. Ist wohl nicht was man in den News hören will.

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