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Am Pranger

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Wo wir doch erst neulich beim Thema „Ausländer in den Nachrichten“ waren: Gestern erhielt ich über Facebook eine private Nachricht unserer ehemaligen Sekretärin: „Habe gerade die Nachrichten über XYZ* gesehen. War ganz schön geschockt.“ (* Name ist dem Author bekannt). Das ganze kam aus heiterem Himmel, da ich im Büro natürlich selten zur Mittagszeit Fernsehen schaue. Eine kurze Recherche brachte den Hintergrund and Licht: Einer unserer Zulieferer wurde festgenommen. Mit ihm seine Frau, und ein weiterer Angestellter. Ich kenne alle drei sehr gut und seit vielen Jahren. Er ist ein 51-jähriger Brite, der zusammen mit seiner japanischen Frau zahlreiche ausländische Lehrbuchverlage in Japan vertritt. Zusammen mit dem dritten, ebenfalls japanischen Geschäftspartner. Die Beziehung war seit jeher recht gut, und erst am Montag hatten wir einen Plausch am Telefon.
Was war passiert? Nun, der Brite hatte vor vielen Jahren einen Vertrag mit einem grossen japanischen Kinderbuchverlag abgeschlossen, der es ihm erlaubte, die englischen Versionen einiger beliebter japanischer Kinderbücher zu verkaufen. Ich kenne die Serie gut – auch wir haben sie vertrieben. Der Verkauf lief mittelprächtig, und irgendwann nahmen wir sie wieder aus dem Sortiment. Aufgrund verspäteter Provisionszahlungen wurden die Verträge jedoch vor gut 4 Jahren gekündigt. Nun wird ihm vorgeworfen, die Bücher trotzdem weiter verkauft zu haben. Laut offizieller Darstellung wurde ein Kinderbuchauthor darüber sehr zornig, und so soll seit fast einem Jahr ein gerichtliches Tauziehen stattgefunden haben. Das wussten wir freilich nicht. Es ging um den Verkauf von 7’700 Büchern im Wert von insgesamt wohl rund 120’000 Euro – die Provision dürfte dabei wohl kaum über 10% gelegen haben. Der Streitwert liegt also in etwa bei, seien wir mal großzügig, 15’000 Euro, doch hier geht es mehr um den Strafbestand an sich: Produktpiraterie. Da ja kein gültiger Vertrag vorlag.
So weit so schlecht. Was da nun dran ist, weiß ich nicht. Und warum der Streit so eskalieren konnte, ist mir auch ein Rätsel — es hatte mit Sicherheit genug Vorwarnungen gegeben. Ich war jedoch einigermaßen entsetzt über die Art und Weise, wie die Beteiligten regelrecht an den Pranger gestellt wurden: Man konnte auf fast allen Kanälen in den Nachrichten sehen, wie der Mann von der Polizei abgeholt und in einen Peterwagen gezwängt (er ist rund 1,85 m groß) wurde. Dazu wurde sein voller Name, Alter, Nationalität, Firmenname und der Name seiner Frau eingeblendet. Noch zur gleichen Zeit tauchten die Namen auf der Internetseite 犯罪者.net (http://xn--g4xo5ykna.net/) auf – einer (wie mir scheint privaten) virtuellen Verbrecherdatei.
Das war es dann also. Sicher, die drei wurden als Verdächtige (容疑者) verhaftet. „Verdächtig“ ist normalerweise nicht mit „Schuldig“ gleichzusetzen – in Japan allerdings schon, denn 99% der Verdächtigen werden letztendlich auch schuldig gesprochen (einen interessanten Artikel dazu gibt es hier (Japanisch)). Doch selbst wenn sich die Unschuld oder eine Teilschuld ergibt – mit seinem ungewollten Auftritt vor den Kameras haben er und seine Frau kaum noch eine Chance, ihre Firma vernünftig weiterzuführen. Sie standen am Pranger, und ihre Namen werden auf ewig im unerbittlichen Speicher des Internets bleiben.
In der Tat – schaut man sich die japanischen Nachrichten so an, wimmelt es nur so von Verhaftungen. Immer mit Live-Mitschnitten von der Festnahme und der ausdrücklichen Veröffentlichung der Klarnamen. Um es nochmal klarzustellen: Es handelt sich zu dem Zeitpunkt noch immer um Verdächtige, nicht um verurteilte Verbrecher. Das ganze muss in Japan natürlich System haben – sonst ist es kaum zu erklären, dass stets Presseleute vor Ort sind.
Pikantes Detail in diesem Fall: Während er und sein Geschäftspartner jedwede Schuld abstreiten, hat seine Frau wohl bereits die Schuld eingeräumt. Das klingt nicht gerade nach einem grundsoliden Eheleben…

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

9 Kommentare

  1. Ich bin immer schockiert wenn ich den Klarnamen, Alter und Firma/Schule eines Verdächtigen im Fernsehen sehe. Absolute Vorverurteilung und ich wette, dass das für alle Angehörigen auch nicht schön ist.

  2. Evtl. hat man der Frau auch eine niedrigere Strafe angeboten, wenn sie Aussagt. Oder sie anderweitig unter Druck gesetzt, die japanischen Staatsanwälte sind da nicht zimperlich. Vor ein paar Jahren gab’s doch den Fall Atsuko Murata, da hatte ein Staatsanwalt Beweise manipuliert um zur gewünschten Verurteilung zu kommen.

    • Ja, es gibt durchaus kritische Stimmen — und die haben unter anderem bewirkt, dass nunmehr bei schwereren Delikten (obiger dürfte nicht dazugehören) eine Jury dem Prozess beiwohnt und mitbestimmt.

  3. Ein typischer „Wachrüttler“, wenn man bereits in Gefahr läuft Japan als „durchgehend“ fortschrittlich zu betrachten. (Was mir hin und wieder passiert) -> Siehe auch unter „verwandte Wachrüttler“: *Todesstrafe *’Pressefreiheit‘ *etc…

    • Nun gut, man könnte natürlich auch Advocatus Diaboli spielen und sagen: Wenn in Deutschland so viele Menschen festgenommen werden, dann aber das Gericht sie freispricht, dann stimmt doch etwas in Deutschland nicht: Scheinbar wird dort vorschnell festgenommen.
      Ich weiss natürlich, was Du meinst, aber die Definition dessen, was fortschrittlich ist und was nicht, liegt oft im Auge des Betrachters.

      • Ich beziehe mich bei meinem Kommentar hauptsächlich auf die Entblössung vermeintlich Schuldiger. Mir scheint das einfach nicht „Rechtsstaatlich“. Die Integrität eines Individuums bedarf eines gewissen Schutzes, selbst als Verdächtige. (Meine subjektive Definition von fortschrittlich :) )
        Ob eine Verhaftung oder hingegen die Verurteilung vorschnell ist wage ich im allgemeinen nicht zu beurteilen. Es gibt Tausende Fälle und ich kenne gerade Mal einige davon – und diese nur durch die Medien.

        • In dem Fall gebe ich Dir uneingeschränkt Recht — dieses „an den Pranger stellen“ ist, wie man es auch betrachtet, sehr bedenklich. In den USA und UK wird das offensichtlich auch immer mehr Mode.

  4. Im auch ansonsten unterhaltsamen Buch
    Darum spinnen Japaner: Neues vom Wahnsinn des japanischen Alltags von Christoph Neumann
    wird auch das japanische Rechtssystem samt seinen Ungereimtheiten (aus demokratischer Sicht) beschrieben. Auf deutsch. Den japanischen Artikel kann ich leider nicht lesen

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