BlogAlles Tokyo oder was?

Alles Tokyo oder was?

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In der Japan Times erschien jüngst ein interessanter Artikel mit dem Titel Is Tokyo killing the rest of Japan?¹. Die Frage ist berechtigt und seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner. Der Magnet Tokyo ist so stark, dass man gern meinen möchte, er lässt den Rest des Landes langsam aber sicher ausbluten. Mit Tokyo ist natürlich nicht nur Tokyo gemeint, sondern die engere Hauptstadtregion, sprich der Westen Chibas, der Osten Saitamas, und die nördliche Hälfte der Präfektur Kanagawa – inklusive der Millionenstädte Kawasaki und Yokohama.

Zwar wird Tokyo nicht überall als Primatstadt, also eine Stadt, die eindeutig im Land nicht nur in Sachen Bevölkerung, sondern auch kulturell, politisch, wirtschaftlich usw. dominiert, angesehen, doch das ist eher eine Definitionssache: Betrachtet man nur Tokyo Stadt, dann hat man „nur“ knapp 9 Millionen Menschen – doch ein Großteil der in Tokyo arbeitenden Menschen lebt in den angrenzenden Präfekturen, und so kommt man schnell auf rund 30 Millionen Menschen und damit einhergehender wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht, denn immerhin handelt es sich um ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes. Für Deutsche zum Beispiel ist diese Situation nur schwer nachvollziehbar, denn in Deutschland gibt es keine Primatstadt – die Bevölkerung verteilt sich beinahe linear auf Klein- und Großstädte und auf das Land. In Berlin leben nicht einmal 5% der Gesamtbevölkerung, und rund um Berlin lebt… fast keiner, womit Berlin bevölkerungstechnisch ganz weit hinter dem Ruhrgebiet zurückliegt.

Tokyo...
Tokyo…

Interessanterweise, und auch das wird im Artikel hervorgehoben, kommen die grössten Kritiker des allzu dominanten Tokyo aus Osaka, der alten Erzrivalin von Tokyo. Es mangelt nicht an Versuchen, etwas Macht an sich zu reissen. So flammt immer wieder die Idee auf, die Hauptstadtfunktion entweder in die Präfektur Gifu zwischen Osaka und Tokyo zu legen oder gar nach Osaka, begründet mit dem durchaus stimmigen Argument, dass so ein grosses und seit langem erwartetes Erdbeben direkt in Tokyo nicht gleich das ganze Land lähmen würde.
... oder Provinz?
… oder Provinz …

Doch die Sache hat leider einen Haken: Viele Menschen, vor allem die Talentierten, und in Heerscharen auch aus Osaka und Umgebung, gehen aus gutem Grund nach Tokyo: Die Stadt ist attraktiver, und sie bietet unbegrenzte Möglichkeiten. Und von permanent vollen Bahnen und nicht enden wollenden Menschenmassen einmal abgesehen, ist Tokyo in einigen Belangen angenehmer als Osaka: Die Luft ist besser, es gibt mehr Grün und man ist als Zugereister den Mitmenschen in der Regel völlig egal. In Osaka ist dem nicht so – die meisten Menschen sind dort zwar netter, oder sagen wir mal so: herzlicher, aber die Chance, in Osaka anzuecken ist grösser als in Tokyo. Das gilt vor allem für Zugereiste, und damit sind auch ausdrücklich zugereiste Japaner gemeint – so klagen nach Osaka versetzte Tokyoter nicht selten darüber, aufgrund ihres (fehlenden) Dialektes regelrecht diskriminiert zu werden. Anders herum gesagt ist man in Osaka regelrecht entzückt, wenn ein Ausländer fliessend im schnoddrigen Kansai-Dialekt schimpfen kann.
...oder gar Osaka?
…oder gar Osaka?

Schnürt Tokyo dem Rest des Landes die Luft ab? Gänzlich verneinen kann man das nicht. Der nationale brain drain ist spürbar, und das nicht erst seit kurzem. Ist Tokyo schuld daran? Nein. Das haben die japanischen Kommunen selbst in der Hand. Es gibt gute Gründe dafür, dass immer weniger junge Japaner in Kleinstädten leben wollen. Aber diese Gründe kann man ändern. Nun gut, ein bisschen Hilfe aus Tokyo ist dabei natürlich doch gefragt, denn von irgendwoher müssen die Mittel ja kommen.
¹ Siehe hier

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

7 Kommentare

  1. Ich habe früher in einer 4 Mio Stadt gewohnt und konnte mir nicht vorstellen in einer kleineren Stadt zu wohnen, warum auch immer. Jetzt lebe ich weit entfernt und habe ein neues Zuhause in einer 125 Tausend Stadt um komme damit gut um, sprich ich kann jetzt auch in einem fließenden Tschechisch schimpfen ;-)))

  2. Also ich bin ja oefter mal in Osaka und anderen Staedtchen. Ohne den lokalen Dialekt drauf zu haben, kann man da schon mal schnell nur Bahnhof verstehen. Ich nehme mir deswegen immer geschulte Begleitung mit.

  3. Tokyo oder Osaka?
    Wenn ich die Wahl haette, dann schon Osaka.
    Und was das Kulturelle etc. betrifft, da waere mir jede etwas groessere Stadt recht. Denn hier bei uns (Matsuyama) koennte man sagen: kultura njet … oder nix von weschen de Kultur.
    Na, es kann nur noch besser werden und auch das Landleben hat etwas fuer sich.

  4. Als Berlinerin, die mal in Tokyo gelebt hat (und es dort bedrückend eng fand) und nun vor einigen Wochen in Gifu war, käme mir diese Idee in etwa so vor wie das Rückverlegen der deutschen Regierung nach Bonn.

  5. Die Osakaner im speziellen und Kainsaianer im allgemeinen haben halt einen ausgeprägten Lokalpatriotismus, mit dem die paranoiden Tokioter überhaupt nicht klarkommen. Anstatt sich wie die Landeier aus der restjapanischen Pampas für Herkunft und Dialekt zu entschuldigen gibt’s erst einmal klare Ansagen auf Kansai-ben. Als Bayer ist mir das natürlich sehr sympathisch.

  6. Ich habe selbst zuerst ein Jahr in der japanischen Provinz, anschließend einige Monate in Tokyo gelebt und bin nun das zweite Jahr in Kyoto.
    Wenn man die persönliche Perspektive um „Lebensqualität“ (hier möge man Kultur ebenso dazuzählen wie Luftqualität, Ausflugsmöglichkeiten, Freizeitangebot etc.) bereinigt, lässt sich hdie Landflucht Japans auch istorisch-soziologisch recht einfach erklären. Nach Tokyo übersiedelte ein Großteil der Firmen ihre Zentralen. Für junge Absolventen, die später „etwas werden“ wollen in einem Großunternehmen, wird Tokyo zur ersten Adresse. Und viele bleiben dann dort hängen. Ich habe in meinen Tokyoaufenthalten eine riesige Anzahl von Menschen kennengelernt, die ihre Herkunft nicht in Tokyo sehen. Viele wollten eig. in den ländlicheren Städten arbeiten oder irgendwann zurückgehen, aber das ist oft schwerer, als man denkt.
    Und da ich ein Jahr in der wirklichen Einöde gelebt habe, ist mir die Unterscheidung zwischen Provinzstädten und wirklichem Land relativ wichtig. Dazu kommt der Gegensatz zwischen der Pazifik- und der Japanmeerseite. Oder die Entvölkerung Hokkaidos/Shikokus im Vergleich zu Honshu und in gewissem Maße Kyushu.
    Kansai hat es zumindest bis zu einem gewissen Grad geschafft, seine eigene Identität zu bewahren. Zwar ist es auch hier ein Fauxpas, einen Kyotoer und einen Osakaer gleichzustellen…aber immerhin existiert Kansai als Wirtschaftsraum und leidet nicht so stark unter Entvölkerung. Dazu kommt das meiner Meinung nach interessantere Kulturprogramm: Während die Tokyoter alljährlich für Minitouren zur Sakura und Herbstlaubzeit in Scharen nach Kansai und in die Provinz pendeln, hat man hier vieles vor der Haustür. ;)
    Lokalpatriotismus ist in gewisser Weise ja auch etwas sehr gutes. Dialekte und regionale Unterschiede beleben eine Gesellschaft.
    Spannend wird die Entwicklung in Japan finde ich, wenn in so 20 Jahren ein Großteil der jetzigen Senioren verstorben sein wird. Manche Landstriche werden dann wohl kaum noch wiederzuerkennen sein. Dabei wäre es doch in Zeiten von Internet und Shinkansen/LCC möglich, ein angenehmes Leben etwas abseits des Molochs Tokyo zu führen.

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