BlogBettler in Shinjuku? Yahoo! Japan und seine Nachrichten

Bettler in Shinjuku? Yahoo! Japan und seine Nachrichten

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Es war eine der Hauptschlagzeilen auf Yahoo! News, DER Nachrichtenquelle in Japan schlechthin für all jene, die eigentlich nicht wirklich an Nachrichten interessiert sind. Mehr dazu aber weiter unten.

Yahoo! News ist im Wesentlichen ein News-Aggregator, und im Gegensatz zu Yahoo! im Rest der Welt ist der Anbieter in Japan ganz dick dabei – Yahoo ist auf Rang 3 der meistbesuchten Seiten, nach Google und Youtube. Die heutige Schlagzeile lautete „35-jähriger Bettler am Bahnhof. Hilfe, die bei den Bedürftigsten nicht ankommt“ und kommt von einem Artikel der Mainichi Shimbun, einer der größten Tageszeitungen des Landes. In dem Artikel¹ wird ein junger Mann beschrieben, der mit einem Pott und einem Schild mit Bitte um Hilfe vor dem Bahnhof von Shinjuku wartet und hofft, dass ein paar Passagiere Münzen einwerfen. Auf dem Schild steht „Corona und andere Dinge bereiten mir grosse Mühen. Bitte helfen Sie mir“.

Hat Corona also Japan so weit gebracht, dass die ersten Bettler auftauchen? Nun ja. Erstens sollte ich dazu anmerken, dass ich auch vor Corona schon angebettelt wurde. Ein Mal im Park von Hibiya, quasi direkt vor dem Kaiserpalast in Tokyo, und ein Mal in Osaka, nahe des berüchtigten Airin-Bezirks, gern das letzte Ghetto Japans genannt. Bettler sind allerdings wirklich ein sehr rares Phänomen. Um zwei Mal angebettelt zu werden, musste ich schliesslich mehr als 16 Jahre in Japan verbringen. In Berlin schaffe ich das wahrscheinlich locker in 16 Minuten, es sei denn, seit meinem letzten Besuch 2017 hat sich vieles geändert.

Laut Bericht verlor der junge Mann aufgrund der Corona-Krise seine Arbeit und dann auch seine Wohnung. Er kam für ein paar Tage bei einem Freund unter, wollte dem aber nicht länger zur Last fallen. Davon, dass die Stadt rund 1,000 Menschen ohne Bleibe kostenlos ein Hotelzimmer zur Verfügung stellt, habe er zwar gehört, aber er wisse nicht, wie er sich bewerben kann. Und andere Jobs konnte er auch nicht ergattern.

Laut Wirtschaftsministerium haben bisher rund 80,000 Menschen ihre Arbeit aufgrund des Corona-Virus verloren, Sehr viele mehr sind „suspendiert“ oder auf Kurzarbeit. Viele Menschen erhalten Unterstützung in Form von Lohnausfallzahlungen, aber in günstigen Fällen liegt die bei gerade mal 60%. Selbst ohne Corona ist die Zahl derer mit prekären Arbeitsverhältnissen ständig angewachsen – immer mehr Japaner arbeiten in losen Arbeitsverhältnissen und können sich selbst mit Vollbeschäftigung kaum über Wasser halten. Die Corona-Krise verschärft das enorm. So tauchten zum Beispiel am 9. Januar mehr als 200 Menschen bei der Essensausgabe einer Art Suppenküche nahe des Stadtmagistrats auf – mehr als 2.5 mal so viele wie im vergangenen Jahr.

Werden wir uns also in Japan an das Bild bettelnder Menschen gewöhnen müssen? Eher nicht, vorausgesetzt, die Pandemie lässt in den folgenden Monaten etwas nach. Denn es gibt durchaus Arbeit, und es gibt auch Lösungen für Menschen ohne Bleibe, wie oben erwähnt. So gesehen ist die Schlagzeile des Artikels ein bisschen reißerisch, denn das ist noch kein Trend sondern eher ein Einzelfall. Jemand, der durch das Raster gefallen ist, und es vorzieht, vor dem Bahnhof zu betteln. Eine bewusste Entscheidung.

Apropos Yahoo! News. Wie bei so vielen News-Aggregatoren finanziert sich der Dienst hauptsächlich durch Werbung, doch die ist bei Yahoo in Japan besonders perfide. Zwischen den ganzen Schlagzeilen verstecken sich nämlich Werbungen, die zwar durch einen kleinen Vermerk rechts unten als solche gekennzeichnet werden, beim Querlesen aber oftmals nicht als solche ersichtlich sind. Das wäre kein Problem, wenn hier Waschmittel oder Immobilien beworben werden – oftmals sind es aber fragwürdige Publikationen, in der Regel aus dem rechten Lager. Siehe Beispiel auf dem Foto ganz oben. Die vierte Schlagzeile sagt „Geschundenes Japan, warum kapitulierst du nicht“, mit der Unterzeile „Die große Lüge des Pazifikkrieges“ (gemeint ist der 2. Weltkrieg mit Japan als Akteur). Wer da nicht aufpasst, liest da ganz schnell mal einen vermeintlichen Nachrichtenartikel, der in Wahrheit einfach nur krude rechte Propaganda ist.

¹ Quelle: Siehe hier.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

3 Kommentare

  1. Mir ist schon mehrmals negativ aufgefallen, dass bei Corona News aus Japan (also für Leute in Japan bestimmt) sehr stark der Fokus auf Tokyo gelegt wird.
    Also kurz gesagt, lautete in den letzten Tagen die Schlagzeile nicht „9000 neue Ansteckungen in Japan“ sondern „1500 Ansteckungen in Tokyo“. Da ich nur gelegentlich mal die Japan Times und Yahoo News konsumiere, bin ich mir nicht sicher, ob dieser Eindruck vielleicht trügt.
    Ist es im Fernsehen usw. auch so, dass Corona mit Tokyo gleichgesetzt wird?

  2. Keine Sorge, in Berlin triffst du noch genug Bettler! Ich war zwar schon länger nicht mehr außerhalb meines Viertels unterwegs, Home Office sei Dank, aber auch hier gibt es sie noch.
    Corona allerdings verschärft die wirtschaftliche Lage auf der ganzen Welt. Auch hier gehen viele Existenzen zu Grund. Die zweite Welle und der langsame Weg aus der Pandemie wird noch vielen das Genick brechen.

  3. Nur 2x in 16 Jahren angebettelt worden? Ich habe das gleich bei meiner ersten Reiseerlebt. Bei Überqueren einer Ampel in Nagoya (Nähe Bahnhof) sprach mich jemand auf halbwegs englisch an. Obdachlose hatte ich in fast jeder Stadt gesehen, das empfand ich als „offensichtlicher“ als in Berlin zu der Zeit. Aber bzgl. Anschnorren und Saufassis liegt Berlin sicherlich immer noch weit vorn.

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