BlogBahnschranken des Grauens

Bahnschranken des Grauens

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Die Nachricht vom Tod einer 71-jährigen Rentnerin an einem beschrankten Bahnübergang in Yokohama vor ein paar Tagen war leider nichts Außergewöhnliche, und die Ursache lag in dem Fall auf der Hand: Besagter Bahnübergang ist nämlich geschlagene 30 Meter breit und überquert insgesamt 6 Bahnlinien – darunter so wichtige wie hochfrequentierte Linien wie die Keihin- und Tokaido-Linie. Die ältere Frau war nicht mehr sehr gut zu Fuß unterwegs – auf halber Strecke begannen sich die Schranken wieder zu schließen, und obwohl sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten beeilte, die andere Seite zu erreichen, war am sechsten Gleis Schluss: Ein Zug erfasste und tötete die Frau¹.
Solche Bahnübergänge sind leider immer noch keine Seltenheit in japanischen Großstädten, und sie sind kreuzgefährlich. Besonders gefährlich sind die sogenannten 開かずの踏切 akazu no fumikiri – die „Übergänge (mit Schranken), die sich nie öffnen“. Dazu zählte auch oben genannter: Vor ein paar Jahren hatte man gemessen, dass die Schranken innerhalb einer Stunde 45 Minuten lang geschlossen sind (auch das ist keine Seltenheit). Wenn sich die Schranken denn mal öffnen, dann ertönt meist umgehend wieder das Signal, dass sie sich gleich schliessen werden, und in der kurzen Zeitspanne wird es natürlich auch sehr hektisch, da es ja kaum Gehsteige gibt und die Strassen oft eng bemessen sind. Autos, Radfahrer und Fußgänger nutzen mehr oder weniger die gleiche Spur, und die Regel für Autofahrer lautet, dass sie ohne zu bremsen zügig rüberfahren sollen. Das ist oftmals Millimeterarbeit. Hinzu kommen oft noch Ampelkreuzungen direkt vor bzw. hinter dem Übergang – selbst wenn die Schranken mal offen sind, kann dann nur ein Auto rüberfahren, wenn die Ampel auf der anderen Seite auf Rot steht.
Das Problem hat man durchaus erkannt – man versucht seit Jahren, die Zahl der Schranken zu reduzieren – indem man sie durch Brücken oder Tunnel ersetzt. Doch das dauert: 2006 gab es in ganz Japan noch 30’188 Übergänge mit Schranken; 2018 waren es immer noch 29’836. Die meisten davon befinden sich auf dem Land, aber die meisten Unfälle gibt es in der Stadt. 291 waren es 2006; 212 im Jahr 2018². Die wie ein Anachronismus (oder einfach nur wie Wahnsinn) wirkenden Bahnübergänge zu reduzieren ist ein wahres Problem, denn eine Unterführung oder eine Brücke brauchen sehr viel mehr Platz — Platz, der einfach nicht vorhanden ist, da alles bis auf den letzten Zentimeter verbaut ist.
Aufgrund der Häufigkeit und Gefährlichkeit dieser Bahnübergänge herrschen für Autofahrer in Japan etwas andere Regeln: Jeder muss vor einem Bahnübergang mit Schranken die Scheibe herunterlassen, um auch akustisch sicher zu gehen, dass kein Zug kommt (macht so gut wie niemand), und man muss, egal wann und wo, an der Haltelinie vor dem Bahnübergang kurz anhalten (macht jeder, denn wenn Polizei in der Nähe ist, gibt es grossen Ärger).
¹ Siehe unter anderem hier.
² Siehe Statistiken vom Transportministerium.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

4 Kommentare

  1. Kann man bei sowas nicht zumindest für Fußgänger eine Brücke drüber bauen?
    Ich meine sogar hier gabs früher mal mal bei dem etwas breiteren Bahnübergang eine Fußgängerbrücke, als der Ablaufberg noch genutzt wurde. (Im Effekt auch 6 Gleise breit)
    Da war dann einmal pro Stunde oder so für 10 Minuten zu.
    Und fast die einzigen Fußgänger waren Friedhofsbesucher, der und 50 Einfamilienhäuser, viel mehr liegt auf der anderen Seite nämlich nicht.

    • Es gibt an dem besagten Bahnuebergang auch eine Fussgaengerbruecke aber ohne Fahrstuhl. Besonders krass ist auch der Uebergang am Bahnhof Namamugi ein paar Stationen weiter suedlich auf der selben Linie. Ich bin da einmal mit dem Auto rueber – nie wieder!

  2. Vor dem Bahnübergang anhalten muss man auch in Deutschland :)
    Ich habe in Yoyogi auch so einen Bahnübergang (auf der anderen Seite gibt es günstigen Kaffee..)
    Manchmal muss man geschlagene 20 Minuten warten. Es ist die Odakyu Linie…
    Zwar gibt es eine Fußgängerbrücke, aber da man nicht weiß ob man 20 Minuten warten muss oder sich die Schranken gleich wieder öffnen, benutzt die kaum jemand. Außerdem bezweifle ich, dass alte Leute, die schlecht zu Fuß sind, die vielen Treppen in Kauf nehmen würden.
    Schön wäre es da, wenn es zwischen den Gleisen genug Platz gäbe, wo man sich im Falle des Falles zusammenkauern könnte ohne vom Zug erfasst zu werden.

  3. Das mit dem Fenster runterlasen wusste ich garnicht! Anhalten und etwas warten nicht nur einfach anhalten das ist mir bekannt. Die Polizei hat mal eine Bekannte nach dem überfahren angehalten weil eben das Anhalten vor den besagten überfahren zu kurz war.
    Unweit von hier hat man einen Bahnübergang getunnelt das hat fast 5 Jahre gebraucht und die Abschlussarbeiten Strassenverlauf und Bordsteineverlegung sind bis heute nicht fertig. Allerdings ist der Tunel seit drei Jahren nutzbar! Ich wundere mich nicht das die Anzahl weiterhin so hoch ist. Man kann da nicht einfach so ein Loch buddeln und daher wahrscheinlich auch nicht Ausländisch Firmen beauftragen kann. Die Chinesen würden… aber das ist eine andere Baustelle

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