Wie wichtig sind Traditionen?

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Diese Frage musste man sich unweigerlich bei dem stellen, was man am 4. April 2018 bei einem kleinen Sumoturnier zu Ehren des 75. Jahrestages der Erlangung des Stadtrechtes von 舞鶴 Maizuru in der Präfektur Kyoto zu sehen bekam. Zu Beginn des Turniers hielt der Bürgermeister der Stadt eine kurze Rede, währenddessen er jedoch plötzlich umkippte. Sofort eilten einige Menschen zu Hilfe – darunter auch zwei Frauen, von denen zumindest eine ganz offensichtlich medizinisch sehr geschult war: Sie begann umgehend mit einer Herzdruckmassage. Kaum hatte sie damit angefangen, erschallte eine Lautsprecherdurchsage:

女性の方は土俵から降りて下さい!
[josei no kata wa dohyō kara orite kudasai]
Die Frauen verlassen bitte den Ring!

Die Durchsage erfolgte auch gleich mehrfach, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Vom Publikum wurde die Durchsage umgehend mit einem Raunen quittiert, denn was da geschah, war in der Tat unerhört. Während die Frauen versuchten, dem Bürgermeister professionell Erste Hilfe zu leisten, war dem Veranstalter die Entweihung des Ringes ein offensichtlich wichtigeres Anliegen. Der Hintergrund ist der, dass Sumō einen shintōistischen Hintergrund hat, und der Ring beim Sumowettkampf, genannt 土俵 dohyō, muss vor einem Kampf rituell gereinigt werden (das Salzwerfen ist dabei ebenfalls eine Form des rituellen Reinigens). Frauen dürfen diesen gereinigten Ring traditionell nicht betreten, das gilt als Sakrileg (in der Vergangenheit gab es jedoch schon Beispiele, bei denen Frauen den Ring betraten – zum Beispiel um eine Ehrung entgegenzunehmen).
Der ganze Vorfall wurde von einem Besucher des Turniers gefilmt und erreichte schnell über 1.5 Millionen Besucher. Schaut man sich die Kommentare zum Video an, kann man dabei beruhigt feststellen, dass auch der Großteil der Japaner den Vorfall für ungeheuerlich hält. Tradition schön und gut, aber wenn es um die Rettung von Menschenleben geht, muss irgendwo eine Grenze gezogen werden.

1 Kommentar

  1. So ein Quatsch. Nachdem die Frauen den Ring ja eh schon betreten und „beschmutzt“ hatten, hätte er eh wieder gereinigt werden müssen, also wieso sollten sie nicht bleiben?
    Dass man als Frau hier Mensch zweiter Klasse ist (na ja, nicht nur hier…), wussten wir ja alle, aber die Damen wollten ja einem Mann (gleich wichtiger Mensch) das Leben retten. Manchmal kann ich über Japan echt nur den Kopf schütteln…

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