BlogJapans ominöse Snackbars

Japans ominöse Snackbars

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In jedem Land auf der Erde ist der englische Begriff „Snack“ etwas völlig unverfängliches, und eine „Snackbar“ einfach nur ein Ort, an dem man sich eine Kleinigkeit zu essen in den Rachen schieben kann. In jedem Land? Nein, ganz am Rande der Welt, da wo das viele Wasser anfängt, liegt Japan, und nur dort ist eine „Snackbar“, oft nur スナック sunakkugenannt, etwas völlig anderes. Und zwar ein mysteriöser Ort, an dem man sich ordentlich in die Nesseln setzen kann. Dabei handelt es nicht um ein selten anzutreffendes Phänomen, sondern um etwas, was es überall gibt. Laut dieser Quelle gibt es in Japan nämlich rund 55’000 dieser Läden – das ist ein Laden pro 2’000 Erwachsene, denn man muss mindestens 20 Jahre alt sein, um dort verkehren zu dürfen. Die Snack-Bars haben dabei nur wenige Gemeinsamkeiten:

  1. Man kann von draußen nicht reinschauen
  2. Die Bar besteht meist aus nur einem, oft kleinen Raum
  3. In den meisten Fällen wird die Bar von einer ママ mama genannten Wirtin geleitet
  4. In den Bars wird Alkohol ausgeschenkt
  5. In den Bars gibt es kleine Snacks — die man serviert bekommt, ob man will oder nicht
  6. Es gibt eine Karaoke-Maschine, und es wird gesungen, was das Zeug hält (die Mama singt meistens auch)
  7. Das Preissystem ist oft undurchsichtig
  8. Snackbars treten meistens gehäuft auf.
  9. In der Nähe der Snackbar-Viertel gibt es oft „sarakin“-Gebäude mit Automaten, an denen man sich schnell Geld leihen kann.

Bei Punkt 1) fängt das Dilemma schon an. In sehr vielen Snackbars sind nämlich junge Frauen angestellt (gern aus den Philippinen oder aus Thailand), die zur Aufgabe haben, den meist älteren, männlichen Besuchern einzuschenken, die Zigaretten anzuzünden und Komplimente ins Ohr zu hauchen, was sie denn für tolle Kerle seien. Und: Nämlichen Besuchern das Geld aus dem Kreuz zu leiern. Der Übergang zum Rotlichtgewerbe ist da manchmal recht fließend. In solchen Snackbars zahlt man natürlich „etwas“ mehr – für die Gesellschaft zum Beispiel, oder für die Getränke, die man zu überteuerten Preisen den holden (?) Schönheiten bezahlen soll. Es gibt jedoch auch nicht wenige Snackbars, die ganz und gar unverfänglich sind: Dort singt der Dorfadel einfach nur harmlose Gassenhauer von anno dazumal.
Warum sollte man sich als Ausländer nun in eine Snackbar begeben? Nun, man sollte eigentlich nicht, denn das ist schon Hardcore-Japan. Wer sich allerdings auf dem Land rumtreibt, und einfach nur ein Bier oder etwas anderes trinken möchte, hat mitunter gar keine andere Wahl. Und eine Snackbar auf dem Land ist auch durchaus interessant für Sprachfans, die einfach mal in den örtlichen Dialekt eintauchen wollen, denn das kann man in Snackbars dank des Alters der Besucher (und meistens auch der Mama) wunderbar tun. Als Ausländer kann man sich auch sicher sein, dass man dort angesprochen wird. Ob man will oder nicht. Und so sieht eine unverfängliche Snackbar von innen aus:

Harmlose Snackbar -- mit Mama beim Karaoke
Harmlose Snackbar — mit Mama beim Karaoke

In diesen einfachen Snackbars kann man oft zu relativ normalen Preisen ein Getränk zu sich nehmen, während man die Wünsche der japanischen Gäste, man möge doch bitte auch etwas singen, abwehrt. Etablissements der oben erwähnten, anderen Klasse – mit weiblichem Beisatz – erkennt man zum Glück nicht selten schon von außen: Am zumeist, man kann es nicht anders sagen – schäbigen Dekor, oder zumindest am Namen. Im Zweifelsfall lauscht man von außen, was von drinnen nach draußen klingt: Hört man viele weibliche Stimmen, nicht selten in radebrechendem Japanisch, sollte man sich auf höhere Rechnungen gefasst machen – da kann man, wenn man den zahlreichen Erzählungen Glauben schenken darf, schnell ein paar hundert Euro lassen.
Für Europäer oder Amerikaner dürften Snackbars jedoch wie ein Relikt aus anderer Zeit wirken: Verqualmt, nicht selten ziemlich schmutzig, und die Klientel ist meistens sexistisch bis zum Anschlag (und daraus schlagen die Betreiber eben ihr Kapital). Ob man das nun gutheißt oder nicht – es ist ein fester Bestandteil der japanischen Kultur, und sie wird so schnell nicht verschwinden. Die Etablissements für die jüngeren Japaner heißen zwar nicht mehr Snack, sondern Host oder Hostess Club und dergleichen, aber im Prinzip ist es das Gleiche.
Beliebter Snackbar-Name. Hier ist schon etwas mehr Vorsicht geboten.
Beliebter Snackbar-Name. Hier ist schon etwas mehr Vorsicht geboten.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

1 Kommentar

  1. Ein treffende Beschreibung. Wenn man sich einen Besuch einmal geben möchte, dann ratsamerweise jenseits der Zentren. Irgendwo auf dem Land oder in einem Vorort läuft man nicht so schnell in Gefahr in einer Abzocke-Bar zu landen.
    Ich perönlich ziehe aber einen ordentlich versifften Izakaya vor.

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