BlogIst Tokyo nun verstrahlt? Oder nicht? Eine Bestandsanalyse

Ist Tokyo nun verstrahlt? Oder nicht? Eine Bestandsanalyse

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In der vergangenen Woche schreckte eine Meldung zahlreiche Hauptstädter – sowie zahlreiche deutsch- und englischsprachige Blogger und ausländische Medien auf: In 世田谷区 Setagaya-ku, einem relativ zentral gelegenen und vergleichsweise gehobenen Distrikt von Tokyo, wurde an einem alten, zerfallenen Holzhaus eine Strahlenbelastung gefunden, die über der von Iitate liegt. Iitate gilt als einer der verstrahltesten Orte Japans und liegt in der Präfektur Fukushima.
Genauer gesagt fanden Privatpersonen bei einer Messung in Setagaya-ku einen Wert von 2.7 Mikrosievert vor (offizielle Meldung hier, Japanisch). In Iitate misst man momentan (im Schnitt) 2 Mikrosievert. Das sind aufs Jahr gerechnet 23.6 Millisievert. Die Internationale Atomenergiebehörde und zahlreiche andere internationale Behörden empfehlen für Normalsterbliche eine jährliche Dosis von maximal 1 Millisievert (siehe unter anderem hier, Englisch); andere Behörden und Organisationen wiederum gehen von 20 Millisievert pro Jahr als absolut unbedenkliche Menge aus. In Japan gilt der Grenzwert 1 mSv, obwohl man den Wert auf 20 mSv für Teile der Präfektur Fukushima erhöhen wollte bzw. teilweise wohl hat.
Vielleicht mag sich der eine oder andere gewundert haben, warum mir die obige Schlagzeile keinen Beitrag wert war. Nun: Das Ganze roch etwas nach Fisch. Warum? Der Wert erschien mir doch etwas zu hoch. Denn: Seit Monaten misst nicht nur die Regierung. Gottseidank. Mehr und mehr Privatpersonen und Organisationen ziehen mit Geigerzählern durch die Hauptstadtregion und teilen gern ihre Messwerte dem interessierten und besorgten Mitmenschen mit. Das ist gut, lobenswert und sehr wichtig. Und gleichzeitig ein Novum – noch nie haben die Bürger ihrer Regierung so stark misstraut.
Wäre der in Setagaya gemessene Wert nun die Regel, wäre dies auf jeden Fall eher und aus mehreren Ecken publik geworden. Die Medien griffen den Ausreisser gern auf, zumal ein Schulweg an dem besagten Haus vorbeiführt. Die lokalen Behörden nahmen das Haus unter die Lupe – und fanden dort in einem schmalen geheimfach-ähnlichen Hohlraum eine Kiste mit Ampullen. Darin: Radium. Jenes wurde bis in die 1950er unter anderem in Japan häufig verwendet: Zum Beispiel, um die Zeiger in Uhren im Dunkeln leuchten zu lassen. Nun – die Ampullen schienen aus der Zeit zu stammen. Sie wurden entfernt, und jetzt misst man am gleichen Ort weniger als 0.01 Mikrosievert. Das entspricht anderen Messungen.
„Foul!“ erschallte es sodann aus allerlei Ecken. „Das riecht ja nach Vertuschung – das stinkt doch irgendwie!“. Nun gut. An dieser Stelle mal die notwendige „What if“- Frage: „Was, wenn dort wirklich jemand Flaschen mit Radium hortete – und die über Jahrzehnte dort lagerten und vergessen wurden?“ Ausgeschlossen? Nein. Es ist einfach logisch, dass solche Dinge jetzt ans Licht kommen: Wer ist vor März 2011 schon mit einem Geigerzähler durch Tokyo gerannt? Grund zur Panik oder zur sofortigen Bemühung althergebrachter Verschwörungstheorien? Nein.
Oder? Andere Messung: In der vergangenen Woche wurden in Yokohama an zwei Orten hohe (bzw. relativ hohe) Strontiumkonzentrationen gefunden. Brisant ist daran, dass Strontium zum ersten Mal soweit entfernt von Fukushima gemessen wurde. Und: Strontium ist besonders gefährlich, da es vom Körper anstelle von Kalzium aufgenommen und in Knochengewebe eingebaut wird, um dort später Knochen- und andere Krebsarten auszulösen. Nun lag die maximal gemessene Konzentration in Yokohama bei 195 Becquerel / Kilogramm (Originalmeldung siehe hier), aber es wurde auch noch nicht flächendeckend gemessen. Die Konzentration ist relativ gering, aber es ist nicht mehr zu leugnen: Strontium gibt es nun auch in der Hauptstadtregion.
Das allgemeine Verständnis lautet dieser Tage so:

  • Die Strahlenbelastung in der Luft liegt auf einem (nahezu) natürlichen bzw. vernachlässigbar erhöhten Level
  • Trinkwasser in der Hauptstadtregion ist sicher (unter Nachweisgrenze)
  • Gemüse, Fleisch, Fisch usw: Streckenweise belastet. Leider ist es schwer einzugrenzen – vor allem bei Fleisch und Milchprodukten, da man nicht weiss, wo was verfüttert wurde. Wer bei Meereserzeugnissen auf Nummer sicher gehen möchte, kauft nur, was in Westjapan (Japanisches Meer) oder im Ausland gefangen wurde (jedoch: norwegischer Lachs ist dank englischer AKW auch belastet usw.). Wer bei Gemüse auf Nummer sicher gehen möchte, vermeidet Gemüse aus Fukushima, Miyagi, Saitama, Ibaraki, Tokyo, Chiba, Shizuoka, Yamagata, Niigata und Nagano, wobei jedoch Chiba, Shizuoka, Nagano und Niigata mittlerweilen als unbelasted gelten
  • Wer Kinder hat und in der Hauptstadtregion lebt, vermeidet altes Laub, den Zwischenraum zwischen Häusern, die Gegend um Gullydeckel und eigentlich alle Stellen, an denen sich leicht Regenwasser sammelt.

Zum letzten Punkt muss jedoch folgendes gesagt werden: Die Werte sind bei weitem zu gering, um äussere Strahlenschäden zu bewirken. Es geht hier um die innere Strahlenbelastung ((体)内被曝 – (tai)naihibaku). Eltern sollten deswegen vorsichtshalber sichergehen, dass Kinder nicht auf irgendeine Art und Weise Schmutz aus diesen Bereichen aufnehmen – zum Beispiel, indem sie dort spielen und dann an ihren Fingern lecken usw. Kurzum: Nicht im Laub oder rund um Wassergräben, Gullydeckeln usw. spielen lassen.
Wie geht es weiter?
Es wird noch einiges ans Licht kommen. Die erhöhten Konzentrationen im Grossraum Tokyo werden mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit gegen Mitte 2012 nahezu verschwunden (ausgewaschen) sein – so war es auch in Bayern ein Jahr nach Tschernobyl. Das Auswaschen radioaktiver Partikel wird jedoch noch auf lange Sicht Probleme im Wasserkreislauf verursachen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

10 Kommentare

  1. Na ja, Pilze sind bei uns immer noch belastet, ebenso gelegentlich Wild-Fleisch. Wie heißt es so schön: Total ungefährlich, aber man sollte das nicht jeden Tag essen.
    Gruß
    Ursel aus Baden-Württemberg

    • Im Grunde kam der „Ampullenfund“ fuer die Regierung in Erklaerungsnot doch genau zum richtigen Zeitpunkt, konnte man doch so die restlichen Funde im Stadtgebiet Tokyo und auch die Funde in Yokohama bequem unter den Teppich kehren. Ist ja eh im Sinne der Bevoelkerung. Fakt ist leider, das Strontium auf dem Gebiet der Metropolen nachgewiesen wurde. Leider hast du nicht darauf hingewiesen das es sich um Strontium 90 handelt, das nur durch kuenstlich eingeleitete Reaktionen hergestellt werden kann und somit leider nicht als „natuerliche“ Quelle deklariert werden kann. Frage ist doch: Wie kommt das Zeug auf ein Dach in Yokohama? Wie lange lag es schon da und konnte weggespuelt werden, bis der jetzt festgestellte Restwert gemessen wurde? Wenn es nicht aus Fukushima angeweht wurde, wo kommt es dann weg? Auch aus irgendwelchen Ampullen? Richtig beruhigen kann mich das alles nicht. Auch nicht, das die verunglueckten Reaktoren auch nach einem halben Jahr immer noch vollkommen ungeschuetzt da stehen und weiter vor sich hinstrahlen….

  2. Wirklich überraschend ist das jetzt doch nicht wirklich. Ich würde doch wetten, dass man hier in Berlin bei einer gross angelegten Aktion auch die eine oder andere Überraschung finden würde. Es zeigt aber auch, dass ein gesundes Misstrauen nicht nur gegenüber dem Umgang mit radioaktiven Stoffen, sondern ganz generell, sehr angebracht ist.

  3. also Fazit: So ein bisschen verstrahlt isses‘ halt schon, aber wohl nur hier und da in Yokohama; und die größte Gefahr ist wohl nach wie die Belastung der Lebensmittel.
    Machen wir es wie hierzulande in den meisten großen Tageszeitungen üblich; ignorieren wir einfach weitestgehend möglich die Messergebnisse nichtoffizieller Organisiationen. Außerdem habe ich dort auch neulich gelesen, daß irgendjemand (irgendeine offizielle Stelle) gesagt habe, Reis aus Fukushima sei jetzt wieder sicher.
    Guten Appetit.
    Nicht, daß ich zur Hysterie neige. Aber die „Schnarchnasigkeit“ hierzulande, bezüglich der Politik, offizieller Stellen, des METI, und auch der Bevölkerung, insbesondere in Bezug was Veränderungen in der Zukunft betrifft, lässt doch manchmal die Welt in Dunkelgrau bis Schwarz statt in Rosa erscheinen.

  4. @Terry
    Schon traurig. Das bedeutet, das Tepco nicht mal mit einem blauen Auge aus „dem Ring“ steigen wird. Als erste Massnahme wurden, wie von Tabibito schon berichtet, mehrfach die Strompreise angehoben und nun wird massiv die Regierung angepumpt. Ich habe absolut keinen Zweifel, das die Milliarden auch fliessen werden. Ist in Europa bei der Bankenrettung ja auch nicht anders. Da wird nicht den vielen Geschaedigten, sondern nur den paar Verursachern geholfen. Zum Kotzen alles!

  5. Die Überschrift und die Tendenz Deines Artikels geht in die Richtung des allgemein verbreiteten Irrtums über Nuklearkatastrophen, der fast durchgehend von der Presse verbreitet wird, den die offiziellen Regierungsvertreter (on de, jp, fr, us oder wer auch immer) absichtlich verbreiten und den deshalb die Majorität der Bevölkerung vertritt. Es ist etwa
    Au weia, hilfe ein Nuklearunfall! Größte denkbare Katastrophe! (was ja sachlich stimmt). Nach kurzer Zeit: Jetzt müssen wir aber auch was von dieser Riesenkatastrophe sehen! Der Vergleich in Japan mit dem gleichzeitigen Tsunami liegt ja auch nahe. Und genau das stimmt nicht.
    Ein Nuklearunfall ist die größte denkbare industrielle Katastrophe. Und von den Folgen sieht man meistens praktisch nichts. Überhaupt gar nichts. Nicht in Lucens (mal googlen), nicht in Harrisburg, nicht in Fukushima. Tschernobyl war da eher die Ausnahme.
    Es gibt keine direkten Toten. Es gibt fast nichts sichtbares vielleicht außer den Wasserstoffexplosionen nach dem 11.3. Explosionen gibt es auch anderswo. Eine in einer Feuerwerksfabrik ist wesentlich schlimmer (vor ein paar Jahren in den Niederlande).
    Wir nehmen Radioaktivität in geringen und großen Dosen nicht wahr. Bestenfalls merken wir nach Tagen eine Dosis größer als 1 Sv an Hautrötungen und Symptomen der Strahlenkrankheit. Auch keine Sinneswahrnehmung.
    Die Folgen sind sehr langfristig. Nach einem halben Jahr steigt die Radioaktivität (derzeit in vielen Berichten auch in Tokyo, vor allem in seinem Trinkwasserreservoir Okutama. Aber nicht wirklich besorgniserregend. Die paar wirklich hohen Werte scheinen eher Ausreiser.
    Über Lebensmittel verbreitet sich die Verstrahlung trotzdem unaufhaltsam. Manchmal wird zu wenig gemessen, manchmal verdünnen Produzenten ihre Ware bis sie unterhalb der Grenzwerte liegen. Soweit ich es mitverfolge, werden in Japan Lebensmittel, z.B. Reis mit weniger als dem Grenzwert ohne weitere Kennzeichnung verkauft, auch wenn er 599 Bq/kg Cäsium enthält. Korrigiere mich bitte, wenn ich das aud Deutschland falsch beurteile. Reis darüber wird gegen Entschädigung aus dem Verkehr gezogen.
    Die verantwortlichen Produzenten der Provinz Fukushima, die sich im Frühjahr entschieden haben, keinen Reis anzubauen, haben den schwarzen Peter: sie bekommen nichts. Wer Reis angebaut hat und keinen Hot Spot auf seinem Feld hat verkauft völlig normal, wer hier Pech hat, bekommt eine Entschädigung. Auch hier: korrigiere mich wenn ich das falsch sehe, weil ich nicht vor Ort bin und die japanischen Zeitungen (englische Ausgaben ausgenommen) nicht lesen kann.
    Wo liegen nun jetzt die Folgen der Katastrophe? Irgendwann bald werden erste und wahrscheinlich schnell bestrittene Bericht über einzelne Fehlgeburten auftauchen. In vier Jahren wird man statistisch einen Anstieg der Schilddrüsenprobleme sehen. In acht Jahren werden Krebsfälle statistisch zunehmen. Alles Dinge, die man auch wieder wegdiskutieren kann. Und wird. Nicht wegdiskutieren wird man jeden einzelnen Fall von Leukämie in Kindes- und Jugendalter, das ist normalerweise sehr selten. An unserer Uni habe ich nach 1986 drei solcher Fälle gekannt. Aber es gab nie einen Beweis eines Zusammenhangs dieser Fälle mit Tschernobyl. Nur, dass diese Krankheit in diesem Alter früher praktisch nie vorkam.
    Die Kinder unserer Kinder werden die nächsten Leitragenden sein. Wer hinschaut sieht das heute in der Umgebung von Tschernobyl. Es gibt Ärzte, die darüber berichten. Und die jenseits aller wissenschaftlichen Gepflogenheit nach einem Artikel gemobbt werden. International sowieso. In Nature erscheint eine solche Veröffentlichung nicht.
    Eine Elfjährige (ich finde den Link nicht mehr, habe es aber etwa im Juli gelesen) hat schnell erkannt und ausgesprochen, was wahrscheinlich in Japan ein Problem werden wird: Sie hat ihre Lehrerin gefragt, ob es stimmt, dass sie später nur einen Mann aus Fukushima heiraten kann. Und natürlich auf die Hibakusha angespielt. Es hat mich erschüttert.
    Für unsere Zeit, die Katastrophen nur wahrnimmt, wenn es 1000 Tote gibt, ist das alles praktisch nicht wahrnehmbar.
    Viele Grüße aus de

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