BlogGrosse Ostjapan-Erdbebenkatastrophe: Update XVIII

Grosse Ostjapan-Erdbebenkatastrophe: Update XVIII

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Auf Wunsch einiger Leser – per Kommentar oder persönlicher Nachricht – zum ersten Mal seit Wochen wieder ein Update zum Thema Erdbeben. Es wird wieder sehr subjektiv werden.
Nachbeben
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Vorneweg die gute Nachricht: Die Nachbeben haben in letzter Zeit an Intensität und Häufigkeit eindeutig nachgelassen. Vor meiner Kurzreise nach Deutschland spürte ich bei uns tagtäglich Nachbeben – seit ich zurück bin, und das ist immerhin schon wieder eine Woche her – habe ich erst eines eindeutig gespürt. Das soll nicht heissen, das es nur eins gab – ein Blick auf die Erdbebeninfos zeigt, dass es schon noch mehr sind als üblich – aber glücklicherweise Wache ich bei Beben unter der Stärke 3 meistens nicht auf und so spüre ich in letzter Zeit zumindest nachts nichts. Die Woche in Deutschland hat mich auch vorerst von der leichten Form der Erdbebenkrankheit geheilt – das ständige Gefühl, dass die Erde bebt, ob wahr oder nicht, habe ich nicht mehr.
Das ist natürlich keine Entwarnung. Es können noch starke Nachbeben folgen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass das in Tokyo schon seit geraumer Zeit erwartete schwere Beben zuschlägt, dürfte nachwievor höher sein als sonst. Aber das ist schwer in Zahlen zu fassen, auch wenn es manche Schlaumeier versuchen – die dann in Foren wie DinJ einfach mal so behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit für „the Big One“ in den nächsten Wochen bei 97% liegt.
AKW Fukushima
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So langsam kommen also die Details ans Licht, und wie schon zuvor befürchtet, ist alles noch schlimmer als man dachte. Wirklich? Eine Kernschmelze hatte also im Block 1 keine 24 Stunden nach dem Beben eingesetzt. Und man weiss noch nicht mal, was genau in Block 2 und 3 nun passierte. Und dann ist da noch Block 4, und viele Tonnen abgebranntes Material in den Abklingbecken. Eigentlich ist es da geradezu erstaunlich, dass da nicht noch viel mehr passierte, aber wie es bereits von zahlreichen Wissenschaftlern vorher bemerkt wurde: Der Reaktortyp ist anders als Tschernobyl und damit sind auch die Abläufe bei einer Katastrophe anders.
Sollte man jetzt also Panik verbreiten? Um der momentanen Entwicklung mal etwa Positives abzugewinnen: Immerhin beginnt man langsam zu verstehen, was wirklich geschah und geschieht. Das ist der erste Schritt zur Planung der richtigen Massnahmen. Und: Der Austrag radioaktiven Materials scheint momentan wesentlich geringer zu sein als noch vor Wochen. Die Strahlung in und um Tokyo, aber auch in anderen Präfekturen, nimmt kontinuierlich ab bzw. ist in einigen Gebieten bereits auf normalem Level. Allerdings gibt es selbst im Grossraum Tokyo grosse örtliche Unterschiede: So stellte man z.B. in Nordwestchiba, in der Gegend um Matsudo, Abiko und Nagareyama, eine 3 bis 5-fach höhere Belastung als im Zentrum Tokyos fest (diese Werte sind damit wohl so hoch wie in Teilen Bayerns nach Tschernobyl). Offensichtlich kam es dort Mitte März zu einem übermässig hohen Eintrag radioaktiver Stoffe, so dass dort der Boden bzw. damit auch die Luft in geringer Höhe stärker belastet ist als anderswo. Einwohner verlangen deshalb nun auch nach einer genauen Messung der Werte im Boden z.B., um gegebenenfalls zu reagieren (Warnung an Eltern usw.)
Ansonsten bekomme ich fast täglich nette Kommentare (die ich nicht veröffentliche) und private Nachrichten, in denen ich auf den einen oder anderen obskuren Link hingewiesen werde, mit Worten wie „Wach endlich auf! Ist alles ganz schlimm!“ oder mit wüsten Verschwörungstheorien nach dem Motto „Warum werden die Werte geheimgehalten? Weil alles noch viel schlimmer ist“ usw. usf. Argumente wie „die Werte werde nicht geheimgehalten, selbst Greenpeace und andere NGO veröffentlichen sie“ dürften da nicht ziehen – wer an Verschwörung glauben will, glaubt dran. Ich jedenfalls aber habe keinen Bedarf nach obskurer Literatur zum Thema.
Versorgungslage
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Mittlerweilen gibt es eigentlich wieder alles. Die Politiker beissen beim Pressetermin herzhaft in Gurken aus Fukushima und verkünden dabei, das alles in Ordnung sei. Ich bin zwar kein Verschwörungstheoretiker, aber das glaube selbst ich nicht: Klar, für den 75-jährigen Politiker wird der Biss in die Gurke ganz sicher keine Konsequenzen haben. Aber was ist mit stillenden Müttern und kleinen Kindern? Das Risiko werden wir nicht eingehen und verzichten damit nachwievor auf Gemüse aus der Region. Was gar nicht so leicht ist, da fast alles grüne Gemüse aus dieser Region hier stammt.
Lage im Norden
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Nun, es geht wohl voran mit dem Saubermachen, aber erwartungsgemäss wird es noch sehr, sehr lange dauern. Man dürfte von Jahren ausgehen. Noch immer leben zehntausende Menschen in Notunterkünften, aber wenigstens scheint sich die Versorgungslage verbessert zu haben.
Die dunkle Seite
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Ich hatte einmal geschrieben, dass die Japaner in punkto Ruhe bewahren nach der Katastrophe und gegenseitiger Hilfe der Gipfel der Zivilisation seien. Aber es gibt auch eine dunkle Seite (die ich schon mehrfach in anderen Beiträgen erwähnt hatte): Das Ausstossen ganzer Gruppen aus der Gesellschaft hat noch immer Konjunktur, und dieses Mal trifft es Fllüchtlinge und Einwohner aus Fukushima. Zahlreiche Fälle wurden bereits gemeldet, in denen Hotelbesitzer z.B. Gäste aus Fukushima ablehnen oder selbst Notunterkünfte von den Menschen verlangen, nachzuweisen, dass sie nicht verstrahlt sind. Dies wird noch wildere Blüten treiben. Aber selbst der Aufruf der Regierung, dies zu unterlassen, und der Hinweis darauf, dass Strahlung nicht ansteckend ist, wird da nicht helfen. Das Ausstossen von Menschen aus der Gesellschaft aufgrund einer (in der Regel nicht mal selbst verschuldeten) „Verunreinigung“ hat hier Tradition.
Soviel erstmal nur. Mehr bei Bedarf und bei Gelegenheit.

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tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

1 Kommentar

  1. Ich glaube eine dunkle Seite findet man überall. Alles was man nicht kennt oder versteht wird mit Argwohn betrachtet, schlimmstenfalls abgelehnt. Aber mit zunehmenden Kenntnisgewinn sollte diese Ablehnung eigentlich zurück gehen. Da hoffe ich, dass deine Vorhersage nicht eintreten wird.
    „Gipfel der Zivilisation“ ist übrigens sehr schön vormuliert! Lass mich ein bischen klugscheißen: Krönung macht es eindeutiger ;-)

    Tja, und ob wirklich der Biss in eine belastete Gurke für einen 75jährigen Japaner keine Konsequenzen hat? Hm, bei der Lebenserwartung könnte sowas schon nachteilig sein.

    Aber gut, dass sich die Lage inzwischen bessert und man hoffentlich auch bald weiß, wie man mancher Situation langsam herr wird.

    Alles Gute euch!

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