BlogAuf dem Hochrad durch die Chinatown von Nagasaki

Auf dem Hochrad durch die Chinatown von Nagasaki

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Jetzt komme ich endlich dazu, mal wieder ein bisschen Material aufzubereiten und neue Seiten zu schreiben. Hinzugekommen sind jüngst die Seiten
Karatsu
und
Nagasaki
Stammkunden dieses Blogs werden sich erinnern – im August letzten Jahres fuhr ich mit dem Nachtzug durch Kyūshū, um dort die Gegend unsicher zu machen. Selbiger Nachtzug wird übrigens leider in exakt 10 Tagen für immer verschwinden – ein weiteres Stück japanischer Eisenbahngeschichte geht hier zu Ende.
In Nagasaki hatte ich eine recht merkwürdige Begegnung. Zufällig war ich am Jahrestag des A-Bombenabwurfs dort. Als ich morgens aus dem Hostel trat, fielen mir zwei schräge Gestalten auf: Ein kleiner, aber recht gewichtiger Mann auf einer aus Holz geschnitzten Draisine (Urvater des Fahrrads – man läuft im Sitzen) und ein grosser, Dürrer auf einem Hochrad.
Die beiden steuerten auf das Hostel zu. Ich unterhielt mich in dem Moment gerade mit dem Besitzer. Die munteren Gestalten schauten mich an, und ihre hübsche Begleiterin fragte mich auf Englisch: „Sprichst Du Japanisch?“. Wir kamen ins Gespräch. Es waren drei Tschechen. Sie machten eine „Friedenstour“ von Hiroshima bis Nagasaki während der Jahrestage des Abwurfs. Der Organisator auf einer Draisine, sein Freund auf dem Hochrad und die junge Frau als Dolmetscherin und Betreuung im Auto. Die Strecke misst über 400 km, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die persönlich in Japan im Hochsommer auf einer ungepolsterten Draisine zurücklegen würde.
Nun ja. Es war Jahrestag, und sie wollten dem Leiter des Atombombenmuseums eine Nachricht überbringen. Leider konnte die Begleiterin nur Englisch und Ivan, der Draisinenfahrer, nur Deutsch. Daher das Interesse an meinem Japanisch. Ich tippte also ihre Nachricht auf Japanisch, und der freundliche Hostelbesitzer redigierte sie. Ob ich auch zur Gedenkstätte gehe, fragten sie dann. Klar. Vielleicht könne ich ja dabei sein, wenn sie den Leiter treffen? Klar. Warum nicht. Also Verabredung am Museum. Ich und Begleiterin fahren mit dem Hostelbesitzer im Auto, Ivan auf der Draisine, sein Freund mit dem Hochrad. Klar waren wir die Ersten.
Am Museum angekommen, waren die beiden natürlich die Attraktion. Treffen mit dem überraschten Museumsleiter – er schien nichts gewusst zu haben. Hastig einberufener Pressetermin und Foto-Shooting. Drei Mal darf geraten werden, wer sich mitten im Urlaub plötzlich als offizieller Dolmetscher wiederfand. Aber der Spass war es allemal wert.
Was sie denn nach den Festlichkeiten machen werden, fragte ich schliesslich. „Keine Ahnung“ war die gut durchdachte Antwort. Da ich auch keinen festen Plan hatte, schlug ich vor, den Rest des Tages gemeinsam durch die Stadt zu ziehen. Einer der ersten Stopps: Ein Konbini (Spätverkauf). Ziel: Bier. Weiter zur hochberühmten Deshima-Insel. Dort erstmal setzen. Bier trinken. Es war surreal, aber schön: Irgendwie war ich im Urlaub in Nagasaki und Tschechien gleichzeitig.
Auf dem Hochrad durch Nagasaki Ich denke, jeder kann es sich vorstellen: Europäer in Japan fallen auf. Europäer in Japan auf holzgeschnitzter Draisine (nebst Rammbock!) und Hochrad fallen mehr auf. Wildfremde Leute kamen auf uns zu, freuten sich, sprachen mit uns – bessere Botschafter für den Frieden kann es nicht geben. Der wortkarge Hochradfahrer nötigte mich schliesslich mitten in der Chinatown von Nagasaki auf sein Hochrad (mein Tschechisch reicht bei Weitem nicht, aber er war sowieso von der ruhigeren Sorte). Und so fand ich mich plötzlich auf einem Hochrad sitzend bei 40 Grad in der Chinatown von Nagasaki wieder (und eins kann ich sagen: in einer schmalen Gasse auf einem Hochrad zu fahren ist nicht einfach!).
Auch den nächsten Tag verbrachten wir schliesslich zu viert – wir fuhren mit dem Teamauto zum nahen Vulkan Unzen. Ich hoffe, die drei denken mit Freuden an diese Tage – mit dem unverhofften Dolmetscher – zurück. Ich genoss es jedenfalls, mich mal wieder treiben zu lassen und ungeplante Sachen zu machen.
Das Wort des Tages: 思い出 omoide – „denken – herauskommen“. Die Erinnerung.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

4 Kommentare

  1. Ich könnte mich auf diesem Gerät nicht halten. Ich finde das immer sehr faszinierend, dass Leute so gut mit solchen Geräten umgehen können. Ich würde das auch gerne können, aber zum lernen habe ich weder die Zeit noch den Mut muss ich ganz ehrlich sagen. Da sitzt man ja doch irgendwie „komisch“ drauf und ich hätte Angst, dass ich da runter fallen würde. Hört sich nach einer schönen Zeit an die du da beschreibst. Da könnte man ja gleich neidisch werden beim lesen. ;-)

  2. Eine schöne Geschichte!
    Könnte eine Episode aus Pinocchio sein, mit dem Kater und dem Fuchs und einem tollen Zirkus. Ganz schön mutig von den Dreien so auf Tour zu gehen, zumal die Dolmetscherin „nur“ auf Englisch(!) übersetzen konnte. Andererseits schön zu sehen, dass man auch ohne Sprache die Botschaft des Friedens überbringen kann wenn der Wille da ist.
    Die Drei haben dadurch bestimmt viel abenteuerliches erlebt, in einem Land wo man oft nicht mal das Toilettenschild lesen kann geschweige denn ob’s für Mann/Frau ist. Hut ab, sowas traut sich nicht jeder.

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