BlogUnser Planziel dieses Jahr: 25'000 Selbstmorde

Unser Planziel dieses Jahr: 25'000 Selbstmorde

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Das klingt vielleicht makaber, aber man könnte stolz sein, wenn man dieses Ziel erreichen würde. Freilich im Sinne von „nicht überschreiten würde“. Alljährlich nehmen sich in Japan zwischen 35,000 und 30,000 Menschen das Leben. Bei rund 125 Millionen Einwohnern ein Schnitt von 26 Selbstmorden pro 100,000 Einwohnern (in Deutschland ca. 14). Eine der höchsten Selbstmordraten der Welt.
Woran liegt das nun? Zum einen muss man nach kulturellen Gründen suchen, zum anderen nach der „Zielgruppe“. Zuerst zu den kulturellen Gründen: Japan ist traditionsgemäss kein christliches Land, und auch wenn im Shintōismus der Tod etwas Unreines ist, so ist doch ein Selbstmord nicht unbedingt unehrenhaft – das (in meinen Augen zweifelhafte) Konzept, dass Selbstmörder umgehendst in die Hölle kommen, gibt es hier nicht. Manchmal, dem traditionellen Denken nach, ist es gar die einzige Lösung. Und so war zum Beispiel jeder schockiert, als sich ein Manager von Livedoor, einer sehr erfolgreichen Internetfirma, die jedoch mit unfeinen Machenschaften ins Gerede kam und gerade zerschlagen wird, sich das Leben nahm, aber es war keine einzige Stimme zu hören, die das als feige bezeichnete oder verurteilte. In gewissen Massen scheint die Haltung gegenüber dem Suizid eine militärische, durch einen Ehrenkodex geprägte Handlung zu sein: Lieber ehrenhaft sterben als unehrenhaft zu darben.
Meistens sind die Gründe jedoch profanerer Natur: Nicht überraschend nehmen sich gerade chronisch Kranke, darunter viele Ältere, das Leben. Allerdings auch Jüngere – so ist zum Beispiel der Gruppenselbstmord von Leuten, die sich im Internet dazu verabredet haben, auch hier ein Thema. Andere Gründe sind zum Beispiel finanzieller Art oder schlichtweg Schlafmangel: Zu viel Stress, zu wenig Schlaf (nein, 6 Stunden gelten nicht als zu wenig) = akute Suizidgefahr.
Es gibt regelrechte Lieblingspunkte für Selbstmörder: Ein grosses, einsames Kliff hier, ein verlassener, etwas gruseliger Wald da. Und für die, die nicht so weit weg wollen, bleibt der Zug: Beinahe täglich wirft sich jemand im Grossraum Tokyo (zur Erinnerung: 30 Mio Einwohner!) vor den Zug. Das nennt man dann 人身事故 (jinshin jiko – „Personenunfall“). Sorgt regelmässig für grosses Chaos. Und die Verwandten müssen, so sie können, für den entstandenen Schaden aufkommen.
Nur Künstler betreiben gelegentlich den Aufwand, spektakulär durch seppuku (auf gut Deutsch Harakiri) von der Bühne zu treten. Das ist nicht erst seit Kurt Cobain so.
Ein düsteres Thema. Also hoffen wir, dass man die gesetzte Marke unterschreitet. Ganz wird sich das nie vermeiden lassen, aber vieles lässt sich bestimmt verhindern (obwohl die Regierung erneut zugegeben hat, dass sie kein rechtes Konzept hat).
Das Wort des Tages: 陽気な (yōki na, Adjektiv). Yo- bedeutet positiv (gleiches Zeichen wie für Yáng in Yin & Yang), -ki bedeutet Seele, auch Laune usw. Auf gut deutsch heiter, lebensfroh.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

2 Kommentare

  1. In der Tat… bin überrascht, dass sie in Österreich so hoch ist. Vielleicht findet sich ja eine Studie darüber.
    Sehe gerade die Google-Anzeigen zu diesem Thema…“Gott liebt Sie“ als Überschrift. Wie drollig. Interessant, dass eine christliche Gruppe Google zum Kundenfang (!?) benutzt.

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