BlogAusflug ins Grüne - Yatsugatake

Ausflug ins Grüne – Yatsugatake

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Yatsugatake-Massiv, von Nobeyama aus gesehen
Yatsugatake-Massiv, von Nobeyama aus gesehen

Es ist Goldene Woche – Kind hat Ferien, es gibt vier freie Tage am Stück, und die möchte man dann doch nicht komplett zu Hause verbringen. So denken 130 Millionen Japaner alljährlich, und so zieht alles durchs Land, was genug Zeit und etwas Kleingeld übrig hat. So auch wir, und es war gleichzeitig ein guter Anlaß, gute Freunde wiederzusehen und gemeinsam durch die Gegend zu streifen. Das Ziel dieses Jahr war das 八ヶ岳 Yatsugatake-Massiv, das sich zwischen den Präfekturen Nagano und Yamanashi auf 30 km Länge hinzieht. Die Gipfel im Massiv sind bis zu 2’899 Meter groß.
Eigentlich ist Reisen in der Goldenen Woche ein Alptraum, denn alles ist hoffnungslos überfüllt. Erst recht, wenn man recht spontan entschieden hat und dadurch keine Fahrkarten reservieren konnte. Die Reise begann auch gleich gut am Herkunftsbahnhof beim Fahrkartenkauf. „Zwei Erwachsene, ein Schulkind, bis Kōfu bitte“ sagte ich der Schalterdame, und die schaute mich gleich mitleidig an: „Oh je – es gab einen Personenschaden in Shinjuku, deswegen stehen alle Linien in die Richtung, und wir wissen nicht, wann es weitergeht. Wollen Sie trotzdem…?“. Personenschaden – das kann ein Selbstmörder sein oder einfach zu viel Gedränge auf dem Bahnsteig, und letzteres ist beim mit 1.4 Milliarden Passagieren pro Jahr weltweit meistfrequentierten Bahnhof Shinjuku kein Kunststück. Mit 30 Minuten Verspätung und viel Herumsteherei unterwegs ging es dann jedoch trotzdem los. Wir trafen uns mit unseren Freunden in Hachiōji (Westen Tokyos), um von dort in den ebenfalls aus Shinjuku kommenden und verspäteten Expresszug umzusteigen. Platzkarten hatten wir nicht, und die Waggons mit den nicht reservierbaren Plätzen waren proppevoll. Aber immerhin dauerte die Fahrt nur eine Stunde, und schon waren wir dort. In Kōfu ging es erstmal zum Hōtō-Essen – das sind sehr breite, dicke Nudeln in einer sehr gesunden Suppe, mit halben Kürbissen, Kartoffeln, Mohrrüben, Tarō-Kartoffeln, Bohnen und was-weiß-ich. Sehr angenehm, wenn man sehr breite, dicke Nudeln mag, und eine der Spezialitäten der Präfektur.
'Ist das Ihr Kind auf dem Trekker?' - 'Öhm, wie kommen Sie darauf!?'
‚Ist das Ihr Kind auf dem Trekker?‘ – ‚Öhm, wie kommen Sie darauf!?‘

Shōsenkyō oder nicht, lautete die Entscheidung danach. Oder: Mit Bus und Seilbahn fahren, oder mit dem Zug. Die lange Schlange an der Bushaltestelle versprach nichts Gutes, und so ging es mit dem Expresszug weiter bis nach 小淵沢 Kobuchisawa und von dort mit einer Ferkeltaxe bis zum Bahnhof 清里 Kiyosato, einem Ortsteil der Stadt Hokuto, und immerhin schon auf über 1’200 Meter Höhe gelegen. Ohne eigenes Gefährt kommt man von dort allerdings nicht weg, und so gingen wir zum nahegelegenen Park 萌え木の村 Moegi-no-mura (wörtlich: Wachsender-Baum-Dorf) – ein liebevoll angelegter Park, in dem man versucht, die Landwirtschaft mit dem quengelnden Nachwuchs oder andersrum vertraut zu machen. Der Eintritt ist frei, es gibt viel in der Gegend produziertes Essen und alles in allem ist die Idee nett und für Kinder durchaus schön. Seit 1971 gibt es die Anlage, und sie ist unter anderem einem amerikanischen Priester namens Paul Rusch zu verdanken, der von 1925 bis zu seinem Tod 1979 in Japan lebte (mehr dazu siehe hier).
Nach ausreichender Bespaßung ging es zurück zum Bahnhof, nur um festzustellen, dass der vor unserer Nase abfahrende Zug der letzte für die folgenden 1.5 Stunden sein sollte. Wir beschlossen ein frühes Abendessen und liefen zu einem uns empfohlenen Restaurants, das sich wohl auf Aufläufe spezialisiert. 17:15 waren wir dort, und laut Schild sollte 17:30 geöffnet werden. Wir warteten, und 10 Minuten später warteten mit uns schon um die 10 Leute hinter uns. Ein gutes Zeichen! Kurz vor 17:30 steckte eine Frau den Kopf raus und sagte „Bitte warten Sie noch ein bisschen!“. Es wurde 17:30. Dann 17:40. Unser Zug sollte 18:30 fahren, das wird knapp. Um 17:45 macht man auf. Wir sind die ersten, werden in die hinterste Ecke platziert, und dann nimmt man die Bestellungen auf. Von allen anderen Gästen zuerst. Wir machen uns um die Zeit Sorgen, und als die Bedienung endlich zu unserem Tisch kommt, fragen wir vorsichtshalber: „Unser Zug fährt 18:30. Schaffen wir das?“ Die Antwort ist recht barsch: „Nein, das wird wohl nichts“. Also trollen wir uns hungrig. Entweder mag man in dem Restaurant keine Hektik, keine Ausländer, oder keine Kinder. Scheinbar war letzteres der Fall: Als wir das Restaurant verliessen, sahen wir einige kleine Aushänge: „Bitte im Restaurant keine Windeln wechseln“. „Bitte Kinder nicht frei herumlaufen lassen“ und noch ein paar andere Verbotsschilder. Geschenkt.
In diesem Restaurant bleibt wohk die Küche kalt
In diesem Restaurant bleibt wohk die Küche kalt

Also fahren wir einen Bahnhof weiter, denn dort übernachten wir. Wir rufen die Pension an, denn das sollen wir so tun, damit man uns abholen kann. Wir haben nun aber noch nichts gegessen. Die Frau am Telefon sagt: „Sie können beim Onsen (Anmerkung: Heiße Quelle) etwas essen. In dem Fall kommen wir einfach zum Bahnhof, geben Ihnen die Freikarten für die heiße Quelle, und wenn Sie dort fertig sind, rufen Sie uns nochmal an, und wir holen sie von der heißen Quelle ab“. Das ist in der Tat sehr zuvorkommend. Gesagt, getan. Ein älterer Mann holt uns mit dem Auto ab, gibt uns die Freikarten, und chauffiert uns zum 200 Meter vom Bahnhof entfernten Onsen. Dort ist scheinbar Himmel und Hölle in Bewegung – das Onsen ist hoffnungslos überfüllt, aber da wir schon mal dort sind… In der angrenzenden Speisehalle essen wir noch ein paar Kleinigkeiten, während sich mein 2-jähriger dazu entscheidet, alle anderen Anwesenden im Saal, und das sind nicht wenige, durch seine Gesänge in einer auch den Eltern völlig unbekannten Sprache, sein Gerenne und sonstiges Rowdytum zu unterhalten. Ich hätte ja gern behauptet, ich kenne das grölende Kind nicht, aber die Herkunft lässt sich schwer verleugnen, zumal ich der einzige Ausländer bin.
Gegen 9 Uhr spuckt uns das Riesen-Onsen aus in die Dunkelheit. Der Pensionsmensch hatte uns zuvor erklärt, dass es nur 200 Meter bis zur Pension seien, wir ihn aber trotzdem anrufen sollen, da es wegen der Dunkelheit schwer zu finden sei. Wir versuchen kurz unser Glück allein, aber es ist in der Tat dunkel wie im Bären*****, also rufen wir ihn an. Er fährt los – mehrere hundert Meter bis zu einer Brücke, dann links, rechts, links, hinein in den Wald und immer einen Waldweg entlang. Als der endete, fährt er einen noch schmaleren Weg entlang. Das waren die längsten 200 Meter, die ich je gesehen habe. Wir hätten es bis heute nicht gefunden. Das Zimmer ist nett eingerichtet. Eine Pension wohlgemerkt, also europäischer Stil, mit echten Betten. Und was passiert also, wenn man zwei an Futon gewöhnte Kids auf Betten losläßt? Heissa! Es dauert eine Stunde, bis sie sich endgültig beruhigen und schlafen legen. Der alte Mann, wohl der Herbergsbesitzer, meinte vorher zu mir: „Wenn Sie rauchen wollen oder ein Bier trinken wollen, kommen Sie einfach ins Wohnzimmer!“. Gesagt, getan, als alles schlief. Das Wohnzimmer sieht aus wie ein Museum. Der Pensionsbesitzer und seine agile Frau sitzen mit zwei Stammgästen (wie ich später erfahre) am Tisch und schauen fern, während sie abwechselnd einen ordentlich großen Labrador kraulen. Wie eine Familie sitzen sie da, und verwickeln mich sofort in ein Gespräch. Das angenehme ist, dass die Leute nicht aufdringlich sind und mich als Ausländer behandeln, sondern „ganz normal“ mit mir reden. Das ist relativ selten in Japan und sehr angenehm. Man ist wirklich „at home“, und der alte Mann nötigt mich noch zu Kartoffelchips (nicht willkommen) und einer Dose Japans besten Bieres (sehr willkommen) auf. Wer also mal zufällig in der Gegend weilt und nicht unbedingt auf Tatami und Futons aus ist – das Casa de Poco in Kai-Ōizumi (甲斐大泉駅) ist als Bed & Breakfast eine durchaus empfehlenswerte Option. Eine Nacht inklusive Frühstück kostet 6’000 Yen und ein großes Onsen und der Bahnhof sind in Laufweite. Einziger Nachteil: Man kann dort nicht zu Abend essen, und allzu viele Möglichkeiten dazu gibt es nicht in der Nähe.
Japans höchstgelegener Bahnhof: Nobeyama
Japans höchstgelegener Bahnhof: Nobeyama

Am nächsten Tag ging es nach einem mehr oder weniger englischen Frühstück los zu einem Spaziergang in der Gegend. Da der Ort so hoch liegt, beginnt hier der Frühling erst einen Monat später als in Tokyo. Sprich, alles was Blüten hat blühte. Mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund und rundherum. Nur der Fuji-san liess sich nicht blicken, denn dafür war es schon zu diesig. Der zweithöchste Berg Japans, der fast 3’200 Meter hohe Kita-dake, war jedoch schön zu sehen, und so auch ein großer Teil der anderen Gipfel der japanischen Südalpen. Wir fuhren mit der kleinen 小海線 Koumi-Linie zwei Stationen weiter bis zum Bahnhof 野辺山 Nobeyama – der liegt bereits in der Präfektur Nagano und ist mit 1’345 Meter Höhe (Schweizer werden darüber lächeln) der höchstgelegene Bahnhof Japans. Wie schön. Nach dem nördlichsten Bahnhof Japans (in Wakkanai) und dem Bahnhof mit dem längsten Namen (Chōjagahamashiosaihamanasukōenmae) ist nun also auch das abgehakt. Leider gibt es jedoch im Ort selbst nicht viel zu sehen. Es gibt eine Panoramaplattform in einem kleinen Park mit Blick auf das Yatsugatake-Massiv, doch der Ausblick wird wunderbar von schwer ignorierbaren Stromleitungen und einer Schnellstraße gestört. Nun müssen wir also zwei Stunden Zeit bis zum nächsten Zug totschlagen, aber das geht letztendlich ganz schnell: Wir suchen ein Restaurant, laufen dorthin, bestellen… und warten ewig auf das Essen. Man hat scheinbar alle Zeit der Welt, aber das ist mir schon seit langem aufgefallen: Der Zeitdruck und die Geschwindigkeit in japanischen Städten ist eine Sache – das Leben auf dem Land eine andere. Dort braucht man für alles etwas länger, und man merkt schnell, wie sehr man sich doch an das Leben in einer Großstadt gewöhnt hat: Kommt das Essen erst 10 Minuten oder später, wird man nervös. Aber das Warten sollte sich lohnen: Ich vergriff mich an ein Gericht namens 石焼薫タンラーメン – Ramen (Nudelsuppe) mit geräucherter Rinderzunge im Steintopf, und es war mal etwas Neues und sehr empfehlenswert.
Passabel: Geräucherte-Rinderzunge-Ramen
Passabel: Geräucherte-Rinderzunge-Ramen

Weiter ging es danach mit der gleichen Bahnlinie Richtung Norden, anderthalb Stunden lang quer durch … Landschaft, bis nach 佐久平 Saku-Daira – von dort kann man mit dem Shinkansen weiterfahren. Das taten wir auch, und die Kinder waren natürlich begeistert. Bis zum Einsteigen, denn natürlich war der Shinkansen hoffnungslos überfüllt, so dass wir die 75 Minuten bis Tokyo stehend verbrachten. Aber wer sich darauf einläßt, in der Goldenen Woche zu verreisen, muss immer damit rechnen. Es hat sich trotzdem gelohnt, und diese (oder eine ähnliche Tour) kann ich nur empfehlen. Das ganze ist auch als Tagesausflug von Tokyo machbar (und Railpass-Benutzer haben es gut, denn alle Bahnlinien sind JR und damit nutzbar), aber ein oder zwei Übernachtungen sind mehr als gerechtfertigt. Ich werde irgendwann wiederkommen, wenn es etwas wärmer ist: Die Berge im Yatsugatake-Massiv reizen mich.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

5 Kommentare

  1. Sehr schöner Reisebericht! Da möchte man gleich selber hin ^^
    Nur zwei Tage weg und soviel zu schreiben – ein Glück wart Ihr nicht die ganze GW über weg.

  2. Sehr schöne Bilder.
    Sach‘ mal, Dein Sohn hat doch nicht etwa einen Bierhumpen auf der Hose? :-)
    Willst das mit den deutschen Wurzeln wohl von vornherein unmissverständlich klarstellen, oder? ;-)

    • Gut beobachtet :) Ja, das ist tatsächlich ein Bierhumpen. Aber die Hose haben wir weder gekauft noch ausgesucht, das war ein Geschenk von einem japanischen Kindermodedesigner.

      • Oh…na,ja, wenn der vorher von dem deutschen Papa wusste, ist die Applikation ja auch ein Wink mit dem Zaunpfahl. :-)
        Muss immer an Deinen link zur „Himmelsohrsendung“ denken, dort huldigte man ja auch der Deutschen Bierdrang.
        Das Zuprosten mit „Heil“ war ja dann noch der Oberknaller. Selten so gelacht. :-)

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