BlogSchülermord in Kawasaki / Das grosse soziale Gefälle

Schülermord in Kawasaki / Das grosse soziale Gefälle

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Anteil der Hochschulabsolventen im Raum Tokyo: Rot: Sehr hoch, dunkelblau: Sehr niedrig. Quelle: http://kishibaru.cocolog-nifty.com/blog/gakureki_top.html
Anteil der Hochschulabsolventen im Raum Tokyo: Rot: Sehr hoch, dunkelblau: Sehr niedrig. Quelle: http://kishibaru.cocolog-nifty.com/blog/gakureki_top.html
Am 20. Februar 2015 machten Spaziergänger im Osten der Stadt Kawasaki einen grausigen Fund: Im hohen Gras versteckt lag die Leiche eines brutal mit einem Teppichmesser ermordeten Jungen. Schnell wurde die Identität des Jungen festgestellt: Es handelte sich um einen 13-jährigen Schüler der ersten Klasse einer Mittelstufenschule in Kawasaki. Als Täter kamen – ebenfalls ziemlich schnell – die Mitglieder einer Jugendgang in Verdacht. Insgesamt soll es sich wohl um 4 Täter handeln, alle zwischen 13 und 18 Jahren alt. Die Klarnamen dürfen aufgrund des Jugendschutzes nicht in den Nachrichten genannt werden, aber sie kursieren seit Tagen auf Twitter: Einer der Täter ist wohl Halb-Japaner / Halb-Amerikaner und ein weiterer ein in Japan lebender Koreaner.
Wie konnte es so weit kommen? Das Opfer wurde auf den Oki-Inseln in der Präfektur Tottori geboren und ging dort auch die ersten Jahre zur Schule, bis er mit den Eltern nach Kawasaki zog. Oki-Inseln? Das ist in etwa so, als ob jemand von einem winzigen Dorf nahe der polnischen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern kommt. Der Junge war wohl sehr beliebt und hatte auch in Kawasaki schnell Anschluss gefunden. Bis er Bekanntschaft mit einer in der Gegend bekannten Gruppe von 不良 furyō (wörtlich: „nicht gut“) – Schüler, die sich, im negativen Sinne, aus dem geregelten sozialen Leben ausklinken – machte. Das ging wohl anfangs gut, bis die Gruppe ihn zum Ladendiebstahl anstiften und er nicht mitmachen wollte. Seitdem war er wohl wieder und wieder Gewalt ausgesetzt und kehrte unter anderem mit blauem Auge und anderen Verletzungen zu Hause auf. Laut Angabe wollte er die Gruppe verlassen, aber das liess die Gruppe wohl nicht zu, und die Gewalt eskalierte.
Wenige Tage vor dem Mord liess er einen Freund über „Line“ (der japanischen „WhatsApp“-Variante) wissen, dass er fürchte, von der Gruppe ermordet zu werden. Der Klassenlehrer versuchte angeblich mehrere Male, die Mutter auf den Jungen anzusprechen, was wohl nie gelang. Sprich, es handelt sich um einen Mord mit Ansage, bei dem Schule und Elternhaus grandios versagt haben. Es ist zudem einfach unbegreiflich, dass alle vier Tatverdächtige, obwohl offensichtlich namentlich bekannt, seitdem auf der Flucht sind und noch nicht gefunden wurden.
Sind die „furyō“ wirklich so gefährlich? Japan ist doch eigentlich bekannt für seine Sicherheit – oder? Nun, mit der Sicherheit ist das so eine Sache. Es gibt auch – beziehungsweise vor allem – in den Ballungsgebieten sehr starke soziale Gefälle. Zufälligerweise habe ich erst vor zwei Wochen eine kleine Radtour durch Kawasaki gemacht. Von mir im Westen der Stadt bis zur Bucht von Tokyo sind es gute 30 Kilometer, und das Stadtbild wandelt sich beträchtlich: Während der Westen relativ ruhig – und sehr wohlhabend – ist, sieht es, je weiter man nach Osten fährt – immer schlimmer aus. Sicher, der Bahnhof Kawasaki mit all den Bürohochhäusern und Einkaufszentren liegt im Osten der Stadt, aber man braucht sich nicht weit davon zu entfernen, um zu sehen, dass hier die soziale Lage etwas prekärer ist. Dort liegen die „Substandard“-Schulen (in Japan misst man den Bildungsstandard an Schulen mit 偏差値 Hensachi – „Standardabweichung“), und dort ist der Anteil der Bewohner mit Hochschulabschluss deutlich geringer als zum Beispiel im Osten der Stadt.
Über das soziale Gefälle in Japan ist im Ausland erstaunlich wenig bekannt, was aber nicht bedeutet, dass es nicht ausgeprägt ist. Und oben genannter Vorfall zeigt, dass mit den furyō nicht zu spassen ist. Dass ein Einzelner, auch in jungen Jahren, einen Menschen ermordet, ist tragisch und kommt überall vor. Dass eine Gruppe Jugendlicher einen der Ihren so hinmetzelt, ist schwer begreiflich. Hoffentlich hat der Fall Konsequenzen.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

10 Kommentare

  1. Von dem grausamen Fall mal abgesehen (mir schauderts da als Vater immer, wenn ich solche Nachrichten lese…) hat Kawasaki scheinbar seit jeher einen schlechten Ruf. Meiner Frau wurde in jungen Jahren von ihren Eltern verboten, alleine nach Kawasaki zu fahren. Wenn man mal regelmaessig mit der Keihin-Tohoku-Line faehrt, weiss man auch warum… Ein bisschen Abschuessig vom Bahnhof gehts dann rapide bergab mit dem Glamour des Lazona. Hab da neulich auch meine erste Schlaegerei unter Japanern (um 12 Uhr Mittags sternhagelvoll) betrachten duerfen.

  2. Wenn es dann zur Aufklärung/Aufarbeitung des Falles kommt, wird es interessant, wie weit man es auf den Halfu und den Koreaner abwälzt bzw. deren Herkunft propagandistisch ausschlachtet, damit man den sozialen Hintergrund schön unter den Tisch fallen lassen kann.

    • Yep. Habe da auch schon sehr böse Tweets zum Thema gelesen. Als ob es in der Vergangenheit nicht genug blutrünstige – und wohlgemerkt reinrassige – Japaner gab! Am liebsten würde ich ja mal auf so einen Tweet reagieren, aber das kommt in Japan nicht so gut an…

  3. Wie sehen denn die Statistiken generell in Japan aus? Ist die gewaltbereitschaft unter Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden gestiegen? Hierzulande sieht es ja auch nicht rosig aus. Gefüllt glaube ich zwar gerade an eine Entspannung, aber langfristig wird das Konfliktpotenzial nicht abnehmen.
    Kannst du dich noch an einen gewissen Hendrik Möbius nebst Kumpane erinnern – derartige Exzesse gibt es auch in den sogenannten Bildungsschichten. Keine Ahnung, wo das noch hinführen soll.

    • Als ich an der Japanologie in Halle HiWi war, war Jugendkriminalität ja das grosse Forschungsthema – da ging es auch um echte Zahlen vs. Wahrnehmung. Die genauen Zahlen habe ich nicht zur Hand, aber Vorkommnisse wie dieser sind nicht unbedingt neu. Neu ist allerdings, welche Rolle soziale Netzwerke dabei spielen – das geht vom Absprachen zwischen den Tätern bis hin zur gemeinschaftliche Täterhatz. Und den Hilferufen des späteren Opfers.
      Hendrik Möbius sagte mir erstmal nichts – aber mal nachgelesen, hat der Name Sandro Beyer die Erinnerungen wach werden lassen.

    • Das ist die Flussgegend – traditionelles Überschwemmungsgebiet und seit jeher „relativ schwach“. Flussnahe Gebiete waren zum Beispiel seit jeher Siedlungsgebiete der Burakumin, und es würde mich nicht wundern, wenn das bis in die Gegenwart abfärbt. Diese Gegend beginnt ja gleich bei der Shitamachi von Asakusa und zieht sich dann bis Norden hin.

  4. Sehr traurige Geschichte. Vermutlich ist das der Sumpf aus dem die Yakuza ihr spaeteres Personal rekrutiert.
    Gibt es in Japan eigentlich sogenannte Sorgentelefone fuer Jugendliche, welche sich nicht Ihren Eltern anvertrauen wollen oder koennen? Die Nummer sollte in jeder Bahn beworben werden. Aehnliches gibt es seit langem in Berlin.

    • Das gibt es in der Tat, aber ich habe keine Ahnung, ob das wirklich genutzt wird. Mir dünkt jedenfalls, dass ich schon mal Anzeigen für anonyme Hotlines in Sachen Schikane in Schule usw. gesehen habe.

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