BlogAnschlag auf ein Nationalsymbol: Selbstverbrennung im Shinkansen

Anschlag auf ein Nationalsymbol: Selbstverbrennung im Shinkansen

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Will man Japan ins Mark treffen, dann gibt es nur wenige Dinge, bei denen man das so leicht erreichen kann wie beim Shinkansen. Das Shinkansen-Netz gibt es seit 1964, also seit 51 Jahren, und die Beliebtheit ist ungebrochen – das Netz wird auch heute noch ausgebaut, und tagtäglich benutzen durchschnittlich 400,000 Fahrgäste die Züge. Und: Bisher gab es noch nie in der langen Geschichte einen tödlichen Unfall. Bis heute: Im Nozomi, dem schnellsten Shinkansen zwischen Tokyo und Osaka, lief ein laut Augenzeugen etwas verwahrloster, älterer Mann den Gang im ersten Wagen auf und ab, sprach einen Fahrgast mit „Wie sieht’s aus mit einer Zigarette?“ an (alle Abteile sind Nichtraucherabteile, wohlgemerkt) und blieb schliesslich neben einer jungen Frau in der ersten Reihe stehen. Dieser legte er dann ein paar 1’000-Yen-Scheine auf den Tisch und sagte „Habe ich gefunden. Kannst Du behalten!“. Als die Frau ablehnte, sagte er ihr „verschwinde von hier, sonst wirst Du verletzt“. Anschliessend goss er sich eine brennbare Flüssigkeit über den Körper und zündete sich an.
Im Abteil brach Panik aus – die Fahrgäste versuchten aus dem Abteil zu fliehen, doch die enorme Rauchentwicklung führte schliesslich dazu, dass nicht nur der 71-jährige Selbstmörder aus Tokyo, sondern auch eine unbeteiligte, gut 50 Jahre alte Frau aus Yokohama noch vor Ort verstarb. Im fahrenden Shinkansen. Zudem gab es rund 20 Verletzte, vornehmlich mit Rauchvergiftung. Der Zug wurde schliesslich angehalten und Löschkräfte drangen zum Waggon vor, aber viel war nicht mehr zu tun: Von dem Mann blieb wohl nicht viel übrig, und der Waggon selbst fing nicht Feuer. Genauer gesagt war von aussen rein gar nichts zu sehen.
Dieses tragische Ereignis ist ein Schock – Shinkansen sind Japans Stolz und – vollkommen zurecht – ein Symbol für Pünktlichkeit, Sicherheit, Sauberkeit und Effizienz. Und obwohl natürlich sofort etliche Leute nach Massnahmen krähen – so ist das heutige Ereignis natürlich nicht mehr als ein freak accident – man kann sich nicht vor allen Dingen schützen.
Die Shinkansen rollten nach drei Stunden wieder, und nur wenig später war der Selbstmörder identifiziert – ein ehemaliger Abrissunternehmer, der vor kurzem in Rente ging und als unauffällig und nett galt. Was ihn zu der Tat wohl bewogen hat? Seine Geste mit dem Geld deutet auf Geldnot hin. Einen Abschiedsbrief hat man noch nicht gefunden, aber ein politischer Hintergrund würde mich überraschen.
Aus gegebenem Anlass an dieser Stelle mal ein gut gemachtes Video, in dem erklärt wird, wieso die Shinkansen so sauber sind, wie sie sind:

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

9 Kommentare

  1. Also, ich würde das mit der Geldnot nicht unbedingt mutmaßen.
    Wenn er der Frau das Geld gegeben hat, dann wollte er etwas letztes gutes tun vielleicht?
    Ich würde eher von einem Politischen Statement sprechen, in letzter Zeit kommt es mir vor das Ministerpräsident Shinzo Abe, nicht gerade beliebt in der Bevölkerung ist.
    Auch ein Anschlag würde in eine andere Richtung verlaufen, die eigene Verbrennung deutet auf ein Protest hin, er hätte schließlich sich auch in seiner Wohnung verbrennen können, aber es wäre als unfall abgetan um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Und wie erreicht man die nationale, nein, internationale aufmerksamkeit? (Da wir das auch in Deutschland mitbekommen) Man tut es in Japans national symbol, dem Shinkansen.
    Ich glaube, er wollte damit niemanden ernsthaft verletzen, und das die 50 Jährige Frau daran gestorben ist, war sicher nicht von ihm geplant. Naja, so zu mindest meine Meinung.

  2. Ich war ganz schön geschockt.
    Selbst bin ich schon so oft mit dem Shinkansen gefahren und hab mich immer sicher gefühlt.
    Aber wie du schon sagst, sowas steht in Japan ja nicht auf der Tagesordnung. Das war eine traurige „Freakshow“.
    Und zum Glück gab es kaum Opfer. Wenn man da so schaut, was in anderen Ländern abgeht … Anschläge und so … da hat es Japan ja wirklich noch sehr gut getroffen. :/

  3. ich selbst verbrennende Passagiere gehören jetzt auch nicht gerade zu meinem Alltag, aber bei sowas frage ich mich immer wieder warum niemand so geistesgegenwärtig ist und die Typen einfach mit Jacken, Decken etc. löscht. So einen alten schlacksen Japaner kriegt man doch locker umgehauen und sich selbst ein paar Haare versengen sollte es doch wert sein.

    • Ich vermute mal, dass es nicht ganz trivial ist, wenn er sich zuvor mit Brennbarem übergießt …
      Ich frage mich eher, warum niemand die Notbremse gezogen hat.

  4. Die Tat kann durchaus ein Protest sein, das ist aber nicht klug genug, man hätte auch ein Statement machen sollen aber nur die Verbrennung selbst ohne einer Erklärung – was bringt es, lieber schon als Terrorist durchgehen, aber man hat dann Aufmerksamkeit geweckt und nicht so.
    Schade, dass man nicht nachdenkt was dann mit dem Ganzen

  5. Ich persönlich finde es wichtig dass man bei diesem mehr als tragischem Zwischenfall bedenkt dass dadurch nicht ein bischen die Sicherheit beeinträchtigt worden ist bzw. wird.
    Es geht hier weder um einen Anschlag noch um ein Statement… Jemand hat sich selbst das Leben genommen weil er einfach nicht mehr weiter wusste und konnte.
    Ich verurteile Selbstmorde welche Unbeteiligte hineinziehen, dies ist ein Fall.
    Aber das ist deswegen kein Anschlag.
    Wir sollten uns als Gesellschaft nur vielleicht fragen wie wir solche tragischen Tode vermeiden können.
    PS: Das Video ist echt genial!!^^

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