BlogSelbstverbrennung in Shinjuku und eine gewichtige Entscheidung

Selbstverbrennung in Shinjuku und eine gewichtige Entscheidung

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Auf diesem Blog ist das Thema eigentlich schon ein alter Hut, aber morgen wird es ernst: Mit einem gewieften Trick soll morgen die pazifistische Verfassung ausgehebelt werden. Artikel 9 der japanischen Verfassung besagt,

1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten.
2) Zur Erreichung des Zwecks des Absatz 1 werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.

Will heissen, Japan darf nicht Krieg führen. Und keine Armee unterhalten. Aber das möchten konservative Kreise und natürlich allen voran die politische Rechte schon lange ändern. Nun gibt es schon seit langem grossen Widerstand gegen eine Verfassungsänderung. Morgen soll dazu ein erster, grosser Schritt erfolgen. Es geht genau genommen um die Etablierung des 集団自衛権 (Shūdanteki Jieiken) – Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Um konkret zu werden: Die USA sind Japans wichtigster Verbündeter. Greift eine andere Macht Japan an, ist die USA verpflichtet, beizuspringen. Greift jedoch eine andere Macht die USA an, ist es Japan verboten, aktiv dem Verbündeten zu helfen. Passiv, zum Beispiel mit militärischen Tankflugzeugen usw., ist dies zum Beispiel im 2. Irakkrieg jedoch schon erfolgt.
Ministerpräsident Abe und seine Regierung möchten nun in einer ausserordentlichen Sitzung des Parlamentes am 1. Juli diese Situation „korrigieren“. Da eine Verfassungsänderung jedoch ziemlich schwierig ist, greift man in die Trickkiste: Sicher, es gibt Artikel 9. Es gibt aber auch Artikel 65 in der Verfassung, und der besagt kurz und knapp:

行政権は、内閣に属する。 – Die vollziehende Gewalt liegt bei dem Kabinett.

Und so beschliesst man morgen also mit einer bequemen Mehrheit im Parlament, die Art und Weise, wie die Verfassung interpretiert wird, zu ändern: Artikel 65 sticht Artikel 9 aus. Ganz einfach. Dass nur ein Drittel der Bevölkerung dies für gut befindet und eine Hälfte schlichtweg dagegen ist¹, ist den regierenden Liberaldemokraten dabei so ziemlich egal.
Das ganze geht nicht ohne Proteste vonstatten: Heute demonstrierten tausenden – genaue Zahlen muss ich leider schuldig bleiben – vielerorts, unter anderem vor der Residenz des Ministerpräsidenten, gegen die heraufziehende Abstimmung. Schade nur, dass die Ministerpräsidenten schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Residenz wohnen, da es dort angeblich spuken soll. Aber das ist natürlich nur ein Gerücht.
Gestern, am 29. Juni 2014, kam es zudem zu einem aussergewöhnlichen Zwischenfall am Südausgang des weltweit belebtesten Bahnhofs – Shinjuku. Ein Mann postierte sich dort gegen 1 Uhr nachmittags mit einem Megaphon auf einer Fußgängerbrücke und begann, gegen die Entscheidung zu protestieren. Das ging eine Stunde lang so, und in dieser Zeit bereitete die Feuerwehr Luftkissen und ähnliches vor. Gegen 2 Uhr übergoss sich der Mann plötzlich mit einer braunen Flüssigkeit und zündete sich an (wer sich das unbedingt ansehen muss – es gibt natürlich alles auf YouTube² – schliesslich ist Shinjuku um diese Tageszeit voller Menschen). Die Feuerwehr war natürlich in Sekundenschnelle dabei, den Mann zu löschen. Jener kam schliesslich mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus, soll aber ansprechbar sein. Interessant ist dabei, dass das geplante Opfer zwar auf viel Interesse in ausländischen Medien stiess, in den japanischen Mainstream-Medien jedoch kaum ein Echo fand.
Politische Auffassung hin oder her – dass Japan der Krieg in der eigenen Verfassung verboten wird, hat seine Gründe. Prinzipiell ist ja gegen das Recht auf Selbstverteidigung nichts einzuwenden. Aber der Gedanke an das folgende Szenarie macht schon bange: Irgendwie schafft Nordkorea es, ein amerikanisches Schiff zu versenken oder es erklärt den USA einfach so den Krieg. Japans Falken beschliessen, dass der Bündnisfall damit geschaffen ist, und lassen die zur Armee verwandelten Selbstverteidigungskräfte anlanden. Und schon stehen japanische Soldaten zwischen China und Südkorea. Beziehungsweise dort, wo meinetwegen jeder sein darf – nur kein japanischer Soldat.
¹ Siehe Nikkei Shimbun vom 29. Juni 2014
² Siehe unter anderem hier

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tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

14 Kommentare

  1. Schrecklich, sowohl die Tatsache das geplant wird Artikel 9 durch die Hintertür außer Kraft zu setzen, als auch das dieser Mann über die Situation anscheinend so verzweifelt war, dass er sich selbst angezündet hat.
    Ich bin ein großer Fan des Artikel 9, meiner Meinung nach die größte Errungenschaft der Nachkriegszeit und so etwas hätte ich auch gerne für Deutschland, obwohl das wohl niemals passieren wird. Die Außerkraftsetzung dürfte ja politischer Sprengstoff sein in Ostasien sein, weil die dortigen Staaten niemals um Aussprache bemüht waren anders als in Europa.
    Was sind denn die Beweggründe der Regierung Abe für diesen Schritt? Was für Vorteile erhoffen sie sich davon überhaupt, wenn die Nachteile schon so überaus groß sind?

  2. Von der Selbstverbrennung erfuhr ich nur über Netzwerke, in den hiesigen Medien musste ich hier erst regelrecht suchen. z.B. bei N-TV / N24 sah ich gar nichts dazu. Das die LDP-regulierten Medien in Japan das unter den Tisch fallen lassen wundert mich allerdings gar nicht.
    Ich konnte aber solche Aktionen schon immer nicht nachzuvollziehen, denn was wird damit erreicht?

    • Eigentlich sollte damit Aufmerksamkeit erreicht werden. Menschen sollen auf schockierender Weise ein Bewusstsein für das angeprangerte Problem bekommen. Wenn jedoch Medien kontrolliert werden, müssen sich wahrscheinlich noch eine Vielzahl von Menschen verbrennen, um eine bedeutende Zahl zu erreichen.

    • Stimmt, hab davon zuerst auf reddit gelesen, in den Medien kam das überhaupt nicht vor, oder nur am Rande und von mir unbemerkt.

  3. Generell ist in der Welt eine zunehmende Militarisierung zu verzeichnen. Die sogenannten Groß- /Siegermächte hatten das eh schon immer auf dem Plan. In der Zwischenzeit sehen sich aber diverse (zumindest vorübergehend) geläuterte Nationen da etwas aufholen zu müssen. Es müssen neue „Märkte erobert“ bzw. alte gesichert werden.
    Die Spannungen zwischen den Kulturen tuen ihr übriges. Japan und die BRD haben es nach dem WWII allein durch Produktions- und Wirtschaftskraft geschafft, sich in der Welt zu behaupten. Diese Zeit scheint nunmehr vorbei.

  4. Erschütternd. Mehr fällt mir da nicht ein. Das passiert, wenn man zuviele alte Säcke zu lange am Leben erhält und diese aus desintersse einfach machen lässt. :(

  5. Ich erinnere mich noch an durchdringende Wirkung, die der Selbstverbrennung von Jan Pallach 1968 in Prag auslöste, der damit gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten protestierte.
    Ein Mensch, der so spektakulär, im wahrsten Sinne des Wortes ein Fanal setzt, sollte nicht tot geschwiegen werden. Ich danke Ihnen, Tabibito, dass Sie über den Selbstverbrennungsversuch des Mannes am Bahnhof von Shinjuku berichteten. Anlass und Umstand sind es wert.

  6. Meine Frau erzählte mir gestern davon und auch eine Menge über Abe. Sie hält nicht viel von diesem Mann und ist der Meinung, dass Abe das Land langsam aber sicher in eine Katastrophe steuert.
    Ich kann es nicht beurteilen, dafür verstehe ich von der japanischen Politik zu wenig.

  7. Ein möglicher Grund wäre, dass Japan in den Krieg gegen Russland und (China?) geschickt werden soll. Das Raketenabwehrschild gegen Russland Und China? ist so gut wie vollendet sowie in Europa wie auch in Japan. Russland soll in die Zange genommen werden. Russland hat lybien, syrien (militärhafen) Ukraine usw. Bereits verloren.. NATO sollte demnach Russland von Westen angreifen. Isis und Saudi Arabien von Süden und Japan von Osten. Das gehört zur Umzingelungstaktik der USA. Japan u. Deutschland werden zu diesem Zweck vorbereitet und aufgerüstet, danach sieht es meiner Meinung nach aus.

    • Das gehört zum Glück in dne Bereich Verschwörungstheorie. Ohnen Ihnen zu nahen treten zu wollen, aber Sie halten es wohl wie Pipi Langsturmpf (basteln sich die Welt, wie sie ihnen gefällt *träller*).
      Was ist nun eigentlich rausgekommen Tabe? Gab es eine Änderung, oder verschoben? Habe nichts wirkliches gefunden dazu bisher.

      • Verschwörungstheorie? Hmm. Ohne ihnen nahe treten zu wollen, Sie sind wahrscheinlich weiblicher Natur und verstehen deshalb naturgemäß wenig von Politik. ;)

      • Prinzipiell hat man es jetzt verschoben, aber man arbeitet weiter mit Hochdruck an der Änderung. Hinzu kommt, dass man beschlossen hat, Waffensysteme zu exportieren – auch das war bisher verboten.

    • Man könnte schon auf den einen oder anderen Gedanken kommen, wenn man sich anschaut, wo es inzwischen überall Stützpunkte der NATO und amerikanischer Streitkräfte gibt. Erinnert irgendwie ein wenig an „The Big Game“.
      Der Raketenschild dagegen ist nichts worüber sich Russen oder Chinesen derzeit sorgen machen müssen. Der funktioniert, wenn überhaupt, nur unter genau definierten Bedingungen. Mit einem russischem MIRV wird er nicht fertig. Noch nicht.

  8. Nicht zu vergessen dass der Selbstverbrennungsversuch als Delikt geahndet werden könnte (軽犯罪). Man beruft sich dabei auf Missbrauch von Feuer (火気乱用). Vermute mal dass damit „versuchte Brandstiftung“ gemeint ist.

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