BlogBuchrezension: "Der lange Atem" von Nina Jäckle

Buchrezension: "Der lange Atem" von Nina Jäckle

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"Der lange Atem" von Nina Jäckle. ISBN: 9783863510770
„Der lange Atem“ von Nina Jäckle. ISBN: 9783863510770
Eigentlich habe ich mich innerlich dagegen gesträubt, dieses Buch zu lesen. Eine deutsche Autorin beschäftigt sich da aus der Ferne mit der nur gut drei Jahre zurückliegenden und damit noch recht jungen Dreifachkatastrophe im Nordosten Japans. Was soll das werden? Eine Anreihung von Vermutungen? Phantasievoll ausgeschmückte Berichte vom Leben nach dem Tsunami? Moralinsaure Abhandlungen über Fukushima? Wer lange in Japan lebt, die Sprache spricht und die Kultur kennt, und zudem auch noch die Katastrophengebiete – vor und nach der Katastrophe – gut kennt, dürfte ähnlich empfinden.
Das Buch erzählt über das Leben nach der Katastrophe aus der Sicht eines Phantombildzeichners, der anhand von Photos unidentifizierter, oder um genauer zu sein, unidentifizierbarer Opfer Gesichter rekonstruiert, um den namenlosen Toten ihren Namen zurückzugeben. Der Hintergrund ist real – noch heute versucht die japanische Polizei, unter anderem hier, auf diese Art Opfer zu identifizieren. Sicher, Phantombildzeichner sind einiges gewohnt, aber die schiere Menge der Opfer dürfte auch die abgebrühtesten ihrer Art auf eine Belastungsprobe gestellt haben.
Aber zurück zum Buch. Gottseidank hält sich die Autorin mit dem Versuch, die japanische Kultur und Denkweise zu ergründen, zurück. Stellenweise tauchen Besonderheiten auf, an denen man ablesen kann, was genau recherchiert wurde oder auf welche Nachrichten zu jener Zeit die Autorin zurückgegriffen hat. Aber im wesentlichen lässt sie die Nationalität und Kultur aussen vor und beschreibt das allzu Menschliche: Der Schock über das plötzlich Verlorene. Die Ohnmacht, die Menschen befällt, wenn auf einen Schlag nichts so ist, wie es einmal war. Und das beginnt in dem Roman so:

Es war der elfte März, und das Meer atmete aus, ins Land hinein atmete es aus und dann atmete es tief wieder ein.

Diese einerseits recht allgemein gehaltene, und trotzdem sehr ausdrucksstarke Sprache war für mich das besondere an diesem Buch. An die Ich-Erzählweise hat man sich schnell gewöhnt, und auch daran, dass viele Sätze mit „Meine Frau“ beginnen, was – da bin ich dann plötzlich konservativ, wenn ich das aus der Feder einer Autorin lese – mich anfangs irritierte. Doch die Art und Weise, wie sich Konflikte in dem Buch aufbauen, ist sehr gelungen beschrieben und treibt an zum Weiterlesen.
Was mich vor dem Lesen am meisten interessierte, war die Bedeutung, die Fukushima zugemessen werden sollte. Wir erinnern uns: Während in Japan fast 20,000 Menschen hauptsächlich durch den Tsunami ums Leben kamen, hallte nur der Name Fukushima durch die deutsche Presse und liess alles andere beinahe vergessen. Und siehe da, gleich zweimal ist da die Rede von mutierten Schmetterlingen oder Sätzen wie:

Aus den Wörtern Jod, Cäsium und Plutonium werden bald die Abzählreime sein, die Kinder lernen schnell.

Das klingt zwar sehr poetisch, aber genau das ist eben alles andere als Japanisch. Genau dies oder ähnliches wird nicht passieren, und die mutierten Schmetterlinge tauchten auch nur ein einziges Mal in den Nachrichten auf – mit genügend skeptischen Stimmen darüber. Den folgenden Satz mit Hinblick auf den nuklearen Teil der Katastrophe könnte man hingegen passender nicht schreiben:

Es sind noch lange nicht alle Verletzten geboren worden, heißt es.

Überhaupt – beim Lesen traf ich gelegentlich auf unübliche, nachdenklich stimmende Sätze, die mir in ihrer Art gefielen – darunter zum Beispiel diesen hier:

… und wer setzt sich hinter dich, rufen draußen die Kinder. Es ist das Meer, rufen die Kinder nicht.

Fazit: Dieser lediglich 170 Seiten lange Roman aus dem Verlag Klöpfer & Meyer ist eine nachdenlich stimmende und gut recherchierte Lektüre zum Thema 11. März 2011 – ob man nun viel mit Japan zu tun hat oder nicht.
Mehr über die Autorin Nina Jäckle erfährt man hier. Und das Buch gibt es natürlich beim gut sortierten Buchhandel oder bei Amazon.

tabibito
tabibitohttps://www.tabibito.de/japan/
Tabibito (旅人・たびびと) ist japanisch und steht für "Reisender". Dahinter versteckt sich Matthias Reich - ein notorischer Reisender, der verschiedene Gegenden seine Heimat nennt. Der Reisende ist seit 1996 hin und wieder und seit 2005 permanent in Japan, wo er noch immer wohnt. Wer mehr von und über Tabibito lesen möchte, dem sei Tabibitos Japan-Blog empfohlen.

3 Kommentare

  1. Obwohl die Themen nahe verwandt sind; ich hoffe ich falle nicht mit der Tür ins Haus…
    Ich habe folgenden Artikel http://www.gegenfrage.com/japanischer-arzt-tokio-ist-unbewohnbar/ gefunden und frage mich ob da was dran ist. Vor einigen Jahren war das Strahlenproblem ja noch – zum selbst nachmessen – quasi unproblematisch. Mittlerweile ist es aber ungewöhnlich ruhig geworden um die Frage ob Tokyo selbst Probleme mit der Strahlenbelastung haben könnte.

    • Ich bin mir sehr, sehr sicher, dass der Artikel völlig unfundierter Blödsinn ist.
      Seit Fukushima haben zehn-, wenn nicht hunderttausende Bewohner in und um Tokyo einen Geigerzähler (mich eingeschlossen), und ich habe auch später noch (zum Beispiel am neuen Wohnort) etwas herumgemessen, und wo ich auch geschaut habe – die Werte waren alle normal.
      Warum es ungewöhnlich ruhig geworden ist? Ganz einfach: Es fehlt in diesem Punkt an sensationellen Nachrichten. Und die Nachricht, dass Tokyo nicht völlig verstrahlt ist (sicher, es gab hier und dort Hotspots), ist einfach nicht sensationell genug.

  2. Alles klar. Ich bin froh das zu hören.
    Gründe für die Ruhe hätten ja das totschweigen durch die japanischen Medien sein können (ähnlich wie die kürzliche Selbstverbrennung). Ausserdem wurde das „特定秘密保護法案“ ja angenommen, oder? Dann wäre aktive Zensur beunruhigender Nachrichten auch möglich.
    Oder dass das Ganze halt wirklich irgendwie „vergessen“ wurde. (Im Ausland wurde die Katastrophe ja auf das nukleare Problem reduziert und zugespitzt – doch auch hierzu hört man da nur noch wenig.)
    Wenn aber noch immer tausende Tokyoer munter am nachmessen sind und Informationen aus erster Hand liefern, beruhigt mich das in der tat. :)

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